„Rekordhohe Arbeitskräfteknappheit wird dominierender Faktor werden“

Herr Dr. Groll, in Ihrer Konjunkturprognose sprechen Sie von einer mühsamen Erholung der deutschen Wirtschaft in der zweiten Jahreshälfte. Woran machen Sie das genau fest und welche Ableitungen lassen sich für die Beschäftigung (Fachkräfte) treffen?
Mit dem Wegfall der allermeisten – angeordneten wie freiwilligen – Infektionsschutzmaßnahmen wäre im laufenden Jahr eigentlich eine sehr kräftige wirtschaftliche Erholung angelegt. Diese fällt nun spürbar schwächer aus. Zum einen erweisen sich die Lieferengpässe, die vor allem die industrielle Aktivität belasten, als langwieriger, auch weil durch die Lockdown-Maßnahmen in China zwischenzeitlich neue Störungen eintraten. Zum anderen verringert der starke und breit angelegte Preisauftrieb die Kaufkraft der privaten Haushalte, was für sich genommen den privaten Konsum dämpft. Am Arbeitsmarkt hat dies bislang allerdings kaum Spuren hinterlassen, und auch für die nähere Zukunft erwarten wir keine allzu großen Folgen für die Beschäftigung, was im Wesentlichen auf die rekordhohe Arbeitskräfteknappheit zurückzuführen ist.
Der Inflationsschub bremst die Expansion. Kann man vor diesem Hintergrund davon ausgehen, dass damit auch die Nachfrage nach Fachkräften weiter gedrosselt wird?
Die gebremste wirtschaftliche Erholung dämpft zwar für sich genommen die Nachfrage der Unternehmen nach Arbeitskräften. Allerdings dürften sich die Folgen für die Beschäftigung in Grenzen halten, da aufgrund der bereits seit Jahren zunehmenden Arbeitskräfteknappheit der Personalbestand in den Unternehmen aktuell geringer sein dürfte als gewünscht.
Der Hays-Fachkräfteindex weist für das zweite Quartal 2022 erstmals eine leichte Nachfrage-Erholung gegenüber dem überhitzten Vorquartal aus. Welches wirtschaftliche Kalkül seitens der Unternehmen könnte dem zugrunde liegen?
Der stark gestiegene Preisauftrieb, insbesondere bei Energieträgern, sowie der Ukrainekrieg haben die wirtschaftlichen Aussichten nicht nur verschlechtert, sondern auch deutlich unsicherer gemacht. Eine höhere Unsicherheit führt typischerweise zu einem abwartenden Verhalten, so auch bei Unternehmen in ihrer Personalplanung.
Einzelne Berufsbilder wie z. B. diejenigen, die im Bereich Employer Branding oder IT-Security tätig sind, werden nach wie vor stark nachgefragt. Wie erklären Sie sich, dass die Arbeitsmarktsituation immer unabhängiger von der konjunkturellen Entwicklung zu verlaufen scheint?
Arbeitskräfteknappheit führt dazu, dass die Beschäftigung weniger stark auf konjunkturelle Schwankungen reagiert, da die Unternehmen in wirtschaftlichen Schwächephasen länger an ihren Beschäftigten festhalten und gar nicht so viele Arbeitnehmende beschäftigen können, wie sie gerne wollten. Die derzeit rekordhohe Arbeitskräfteknappheit wiederum lässt sich zum einen auf die Folgen der Pandemie und zum anderen auf den demografischen Wandel zurückführen. Während die Folgen der Pandemie mit der Zeit nachlassen dürften, bekommen wir die Auswirkungen des demografischen Wandels gerade erst zu spüren. Unseren Schätzungen zufolge wird das Arbeitskräftepotenzial in Deutschland in den kommenden ein bis zwei Jahren seinen Zenit erreichen, danach schrumpft es. Dies wird Wirtschaft und Politik auf Jahre und Jahrzehnte vor Herausforderungen stellen.

Wie schlägt sich die branchenübergreifende Personalnot (auch im Bereich Fach- und Führungskräfte) auf die Entwicklung der Löhne und Gehälter nieder?
Wenn etwas knapper wird, wird es teurer. Dies gilt nicht nur für Waren und Dienstleistungen, sondern auch für den Faktor Arbeit. Unserer Prognose zufolge werden die durchschnittlichen Löhne und Gehälter im Jahr 2022 und 2023 mit jeweils rund 5 Prozent so stark steigen wie seit 30 Jahren nicht mehr. Neben der Personalnot sorgt hierfür freilich auch die stark gestiegene Inflation, wodurch der Verteilungsspielraum für Lohnverhandlungen zunimmt.
In Ihrer Konjunkturprognose sprechen Sie von einem robusten Beschäftigungszuwachs in den kommenden Quartalen, allerdings in moderatem Tempo. Ist diese Verlangsamung auf den grassierenden Fach- und Nachwuchskräftemangel zurückzuführen?
Das Tempo lässt aus mehreren Gründen nach. Die Erholung der Erwerbstätigkeit vom pandemiebedingten Einbruch im Jahr 2020 ist bereits weit vorangeschritten, sodass das Tempo schon von ganz alleine nachlässt. Dämpfend dürfte dann die sehr starke Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro im Oktober dieses Jahres wirken. Aufgrund der hohen Eingriffsintensität rechnen wir mit Beschäftigungsverlusten bei den betroffenen Arbeitnehmenden, die sich nach und nach materialisieren. Mit fortschreitender Zeit wird schließlich die Arbeitskräfteknappheit aufgrund des demografischen Wandels zum dominierenden Faktor werden.
Welchen Tipp können Sie Unternehmen geben, die jetzt ihre Workforce für die kommenden drei Jahre planen möchten?
Unternehmen haben zahlreiche Möglichkeiten, um der Personalnot zu begegnen, die allerdings je nach Branche und Tätigkeiten unterschiedlich geeignet sind. Neben einer höheren Bezahlung spielen bessere Arbeitsbedingungen wie flexiblere Arbeitszeiten, flexiblere Arbeitsorte, bessere IT-Ausstattung oder geringere Arbeitsbelastung eine wichtige Rolle. Hierzu zählt insbesondere, die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass Beschäftigte Familie und Beruf besser in Einklang bringen und ältere Beschäftigte länger im Unternehmen arbeiten können (z. B. körperlich oder psychisch weniger belastende Tätigkeiten). Des Weiteren könnten aus dem Ausland gezielt Arbeitskräfte angeworben werden. Der langfristig größte Hebel dürfte hingegen in einer Kapital- und Technologieintensivierung der Produktion und der Geschäftstätigkeit liegen. Automatisierung und Digitalisierung können nicht nur helfen, Beschäftigte zu entlasten, sondern können fehlendes Personal in bestimmten Bereichen sogar ganz ersetzen.

Dr. Dominik Groll, Senior Economist, Kiel Institute for the World Economy
Nach seinem Studium der Internationalen Volkswirtschaftslehre an der Universität Erlangen-Nürnberg und der Universität Valencia kam Dominik Groll 2009 an das Institut für Weltwirtschaft in Kiel und schloss 2014 seine Promotion ab. Seine Forschungsschwerpunkte liegen derzeit auf kurz- und mittelfristigen Arbeitsmarktprognosen, den makroökonomischen Effekten von Zuwanderung und den Implikationen der Währungsunion für die makroökonomische Stabilität. Darüber hinaus berät er regelmäßig die Bundesregierung zu einem breiten Spektrum an makroökonomischen Themen.