Trotz Talfahrt befinden wir uns noch in der Nähe des Berggipfels

Die Nachfrage nach Fachkräften in Deutschland gleicht einer Berg- und Talfahrt, das machen die aktuellen Ergebnisse des Hays Fachkräfte-Index deutlich. Nachdem noch im ersten Quartal mehr Stellen ausgeschrieben wurden, nimmt die Zuversicht im zweiten Quartal bereits wieder ab. Branchenübergreifende Zurückhaltung bei den Stellengesuchen. Wie ist das arbeitsmarktpolitisch zu erklären?
Der Ukrainekrieg, die Energiekrise und die stark gestiegene Inflation haben zu einer erhöhten Unsicherheit bei allen Wirtschaftsakteuren über die künftige wirtschaftliche Entwicklung geführt. Die zwischenzeitlich gestiegene Einstellungsbereitschaft der Unternehmen im ersten Quartal dieses Jahres dürfte damit zu tun haben, dass sich die schlimmsten Befürchtungen hinsichtlich der Energieversorgung während des Winters nicht bewahrheiteten – eine Gasmangellage ist nicht eingetreten. Danach trübten sich die Aussichten aber wieder ein. Im gesamten ersten Halbjahr stagnierte die wirtschaftliche Aktivität lediglich. Trotz alledem: Die Nachfrage nach Fachkräften ist ausweislich des Hays Fachkräfte-Index weiterhin hoch, bildlich gesprochen befindet man sich trotz der Talfahrt also immer noch in der Nähe des Berggipfels.
Was halten Sie von dem Vorstoß des IW-Chefs Michael Hüther, Menschen wieder für mehr Arbeit zu begeistern? Oder glauben Sie, dass der Zenit angesichts der Debatte um die Vier-Tage-Woche sowie der vielzitierten Work-Life Balance bereits überschritten ist?
Eine Ausweitung der Arbeitszeit könnte dem Arbeitskräftemangel natürlich entgegenwirken. Die Menschen werden freiwillig aber nur mehr arbeiten, wenn es sich für sie aus ihrer individuellen Sicht lohnt. Hier sollte man sich die Frage stellen, ob Fehlanreize Menschen davon abhalten, mehr zu arbeiten. So gibt es beispielsweise nur wenige OECD-Länder, in denen die Belastung der Löhne und Gehälter mit Steuern und Abgaben noch höher ist als in Deutschland. Von einem zusätzlich erarbeiteten Euro zieht der Staat nicht selten mehr als die Hälfte in Form von Steuern und Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen zu den Sozialversicherungen ein. Ein solch hoher Keil zwischen dem, was Arbeitnehmende in Unternehmen erwirtschaften, und dem, worüber sie netto verfügen können, wirkt sich negativ auf die individuellen Arbeitsanreize aus.
Welche Überlegungen sollten Unternehmen Ihrer Ansicht nach jetzt anstellen, um ihre Personalallokation für die kommenden Jahre angesichts der schleichend zunehmenden Demographie-Krise jetzt realistisch anzugehen?
Der Arbeitskräftemangel, den wir jetzt erleben, ist nur der Beginn dessen, was uns angesichts der fortschreitenden Alterung der Bevölkerung in den kommenden Jahren und Jahrzehnten bevorsteht. Den Unternehmen stehen verschiedene Wege offen, um damit umzugehen, z.B. ältere Mitarbeitende durch geeignete Maßnahmen länger im Betrieb halten; verstärkte betriebsinterne Aus- und Weiterbildung, um die Qualifikation von zunächst ungeeigneten Bewerbern zu erhöhen; verstärkte Rekrutierung aus dem Ausland; Arbeitsprozesse verschlanken, digitalisieren, automatisieren oder ins Ausland verlagern.
Klar ist aber auch, dass solche Maßnahmen kostspielig sind und sie die Auswirkungen des alterungsbedingten Fachkräftemangels aller Voraussicht nach nur abmildern, aber nicht kompensieren können. Das Kernproblem ist, dass durch die Alterung derjenige Teil der Bevölkerung, der sich im Ruhestand befindet, in den kommenden 20 Jahren weiter zunimmt. Die Güterversorgung der Gesamtbevölkerung muss also von einem immer kleineren Teil der Bevölkerung – den Erwerbstätigen – gewährleistet werden. Die Politik hält mit der gesetzlichen Rentenversicherung einen mächtigen Hebel in der Hand, da die Ausgestaltung dieses Systems (Regelrenteneintrittsalter, Frühverrentungsregeln) einen großen Einfluss darauf hat, wann Menschen aus dem Erwerbsleben ausscheiden.

Dr. Dominik Groll, Senior Economist, Kiel Institute for the World Economy
Nach seinem Studium der Internationalen Volkswirtschaftslehre an der Universität Erlangen-Nürnberg und der Universität Valencia kam Dominik Groll 2009 an das Institut für Weltwirtschaft in Kiel und schloss 2014 seine Promotion ab. Seine Forschungsschwerpunkte liegen derzeit auf kurz- und mittelfristigen Arbeitsmarktprognosen, den makroökonomischen Effekten von Zuwanderung und den Implikationen der Währungsunion für die makroökonomische Stabilität. Darüber hinaus berät er regelmäßig die Bundesregierung zu einem breiten Spektrum an makroökonomischen Themen.