Unternehmen & Märkte

Näher am Kundenerlebnis

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Unternehmen sollen bei der Produktentwicklung die Bedürfnisse des Nutzers in den Mittelpunkt stellen. Im Idealfall empfindet der Nutzer das Produkt dadurch als nützlich und einfach zu bedienen – und baut eine emotionale Bindung zu ihm auf.

Der Paradigmenwechsel wurde bei Bosch vor etwa sechs Jahren ausgerufen. „Traditionell haben Technologieunternehmen Produkte entwickelt und anschließend versucht, den potenziellen Kunden davon zu überzeugen, dass es die besten Produkte sind“, sagt Annette Becker, Leiterin der Zentralabteilung User Experience bei Bosch. Inzwischen wechseln die Bosch-Mitarbeiter zunächst die Perspektive, wenn sie ein neues Produkt entwickeln wollen. „Dahinter steckt der Gedanke, dass uns nur die Nutzer eines Produkts zeigen können, was sinnvoll ist“, erläutert Becker. Also schauen sich Bosch-Teams an, wie die Nutzer das betreffende Produkt verwenden und in welchem Kontext. Das kann in der Küche sein, im Auto oder – ganz plakativ – beim Bohren von Löchern in der Wand. Die Abteilung User Experience betreibt hierzu eigens ein Labor für entsprechende Tests.

„Diese Phase der Beobachtung betreiben alle am Entwicklungsprozess beteiligten Teams gemeinsam – Entwicklung, Marketing, Vertrieb“, erzählt Becker. Erste Erkenntnisse münden rasch in erste Lösungsansätze für das geplante Produkt. Ein schnell erstellter Prototyp – etwa aus Papier oder als 3D-Druckerzeugnis – steht dann für weitere Tests beim Nutzer zur Verfügung. „So gehen wir iterativ im Team vor, um die beste Lösung zu finden“, sagt Becker. Das Credo lautet dabei: Fehler in der Produktentwicklung zu machen, ist völlig okay. Aber wenn schon Fehler, dann bitteschön möglichst früh im Prozess! „Denn macht man Fehler – im Sinne von Funktionen, die an den Nutzerbedürfnissen vorbeigehen – erst am Ende des Entwicklungsprozesses, dann sind sie besonders teuer“, erklärt Becker.

In den Augen von Harald Widlroither, Leiter der Ergonomie-Abteilung am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) in Stuttgart, ist die nutzerzentrierte Produktentwicklung „im Prinzip ein alter Hut“: „Vor 20 Jahren sprachen wir von Usability Engineering, heute spricht man vom User Experience Engineering.“ Beiden Ansätzen liegt ein nutzerzentriertes Vorgehen zugrunde. Anfangs ging es nur um die Usability, die Gebrauchstauglichkeit, dann kamen Aspekte hinzu, die das gesamte Nutzungserlebnis bewerten. „Die Usability wurde um ästhetische und emotionale Kriterien erweitert“, sagt Widlroither. Apple-Produkte gelten gemeinhin als Beispiel für die gekonnte Vereinigung von Usability und User Experience: Sie sind nicht nur benutzerfreundlich, sondern erzeugen auch ein starkes Gefühl der Identifikation mit der Markenwelt des Herstellers.

Die Herausforderung liegt in der Funktionsvielfalt

Dass die nutzerzentrierte Produktentwicklung gerade in den letzten Jahren in den Unternehmen immer wichtiger wird, liegt an der steigenden Komplexität der Produkte und an dem Einzug der Digitalisierung in unseren Alltag. „Früher ging es bei einem Produkt um die formale Gestaltung und um die richtige Dimensionierung“, so Widlroither, „heute hat selbst eine Bohrmaschine ein Display, also eine Benutzerschnittstelle, über die die Interaktion läuft.“ Die Funktionsvielfalt zu beherrschen sei eine Herausforderung, wenn man intuitiv zu bedienende Produkte oder Services entwickeln wolle. Das schaffe man eben nur mit nutzerzentrierten Methoden, ist der Forscher überzeugt.

Man könnte es auch provokant formulieren: Für die Hersteller wird es immer schwieriger, sich rein technologisch zu differenzieren, also spielen andere Aspekte bei der Kaufentscheidung eine größere Rolle: „Natürlich gibt es in Autos immer noch Unterschiede beim Sitzkomfort oder bei der Anzahl der Assistenzsysteme“, sagt der IAO-Forscher. „Aber die Unterschiede werden geringer, weil zumindest die reine Funktionalität in vielen Fahrzeugklassen zur Verfügung steht – daher kommt es besonders auf die Schnittstellengestaltung und das Nutzungserlebnis an.“

Apple-Produkte gelten gemeinhin als Beispiel für die gekonnte Vereinigung von Usability und User Experience.
Apple-Produkte gelten gemeinhin als Beispiel für die gekonnte Vereinigung von Usability und User Experience. Foto: hurricanehank/fotolia

Wichtig ist die Bereitschaft, Dinge zu verwerfen

Den Nutzer frühzeitig einzubeziehen, geschieht laut Torsten Bartel, einem der beiden Geschäftsführer der Agentur usability.de in Hannover, „am besten über kontextuelle Interviews, um ohne Suggestivfragen herauszufinden, wie er mit einem System arbeitet und wie er dieses Arbeiten empfindet“. Im Prozess seien dann „frühe realistische Prototypen“ wichtig, um die gewonnenen Erkenntnisse plastisch werden zu lassen. „Durch die Prototypen stellen die am Entwicklungsprozess beteiligten Teams auch fest, ob wirklich alle von den gleichen Vorstellungen ausgegangen sind“, sagt Bartel. Wichtig sei im Prozess zudem „die Bereitschaft, Dinge zu verwerfen“.

Usability.de begleitet einerseits Prozesse, bei denen es tatsächlich um die zentrale Frage geht, was der potenzielle Käufer eines geplanten Produkts genau möchte. Es kann aber auch sein, dass die Agentur im Auftrag einer internen User-Experience-Abteilung Teilaufgaben im Prozess übernimmt, zum Beispiel die Testdurchführung oder die Prototypenentwicklung. „Wir beraten Unternehmen in verschiedenen Branchen und haben dadurch keine branchenspezifischen Scheuklappen“, nennt Bartel den Vorteil eines Externen.

Natürlich ist der Übergang von einer klassischen zu einer nutzerzentrierten Produktentwicklung im Unternehmen ein Prozess, der zunächst intern Begleitung erfordert. Das Management muss hinter dem Ansatz stehen. Man muss ein Bewusstsein in der Belegschaft dafür schaffen, auch über interne Weiterbildungen. Bosch-Abteilungsleiterin Annette Becker sagt, dass sich die Mitarbeiter ihrer Abteilung hierbei als Coaches verstehen. Mit Erfolg: Aus dem Projektteam von vor sechs Jahren ist inzwischen eine Einheit mit 75 Mitarbeitern an vier weltweit verteilten Standorten entstanden, um die von Bosch-Chef Volkmar Denner ausgegebene Parole in die Tat umzusetzen: „Kundenzufriedenheit reicht nicht mehr, wir müssen unsere Kunden begeistern.“

3D-Druckerzeugnis
Erste Erkenntnisse münden rasch in erste Lösungsansätze für das geplante Produkt. Ein schnell erstellter Prototyp – etwa aus Papier oder als 3D-Druckerzeugnis – steht dann für weitere Tests beim Nutzer zur Verfügung. Foto: pressmaster/fotolia

Fragen der Privatsphäre von Anfang an berücksichtigen

Dr. Steven Arzt, Informatiker am Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie SIT in Darmstadt.
Dr. Steven Arzt, Informatiker am Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie SIT in Darmstadt. Foto: Steven Arzt

Privacy by Design lohnt sich, sagt Steven Arzt, Forscher am Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie in Darmstadt. Denn von dem Ansatz profitieren beide Seiten – Nutzer und Entwickler.

Interview mit Dr. Steven Arzt, Informatiker am Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie SIT in Darmstadt.

Privacy by Design lohnt sich, sagt Steven Arzt, Forscher am Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie in Darmstadt. Denn von dem Ansatz profitieren beide Seiten – Nutzer und Entwickler.

Privacy by Design geistert schon länger als Schlagwort durch die Softwarebranche. Was bedeutet der Begriff?

Fragen der Privatsphäre sollten bereits am Anfang der Softwareentwicklung berücksichtigt werden, also bereits, wenn man darüber nachdenkt, wie die Software später funktionieren soll. Typische Überlegungen wären: Welche Daten muss ich überhaupt erfassen? Welche muss ich dauerhaft speichern? Wie muss ich mit ihnen umgehen? Muss ich sie verschlüsseln? Muss der Nutzer seine Daten korrigieren oder löschen können? Durch Privacy by Design lässt sich der schlimmste Fall vermeiden: Man hat bereits viel Geld in eine Softwareentwicklung gesteckt, das System womöglich schon am Laufen – und dann bekommt man Probleme mit Compliance-Richtlinien oder es gibt Datenlecks oder schlechte Presse, weil Kundendaten auf unvernünftige Weise weitergegeben wurden. Das zu beheben wird richtig teuer.

Nennen Sie uns bitte ein anschauliches Beispiel für Privacy by Design.

Sie rufen bei Ihrer Bank an und wollen eine Auskunft. Dafür müssen Sie sich etwa mit dem Geburtsdatum oder der Kontonummer identifizieren. Der Prozess, den die Bank sich vorher überlegt hat, sieht also vor, dass nicht einfach jeder anrufen kann und die Daten erhält.

Bedeutet Privacy by Design für den Anwender so etwas wie intuitiv nutzbare Sicherheit?

Mit dieser Gleichstellung tue ich mich etwas schwer. Bei intuitiv benutzbarer Sicherheit geht es ja eher um die Frage, ob der Nutzer die angebotenen Schutzmechanismen ohne großes Nachdenken anwenden kann. Ist es zum Beispiel bei einem verschlüsselungsfähigen Mail-Programm tatsächlich einfach, die Mails zu verschlüsseln? Privacy by Design dagegen bezieht sich auf den Entwicklungsprozess, setzt also früher an.

Bedeutet Privacy by Design automatisch, dass ich Herr meiner Daten bleibe?

Grundsätzlich gehört schon eine Datensparsamkeit dazu und auch die Daten so zu verarbeiten, dass die Privatsphäre des Nutzers geschützt bleibt. Ob man tatsächlich Herr seiner Daten bleibt, hängt aber vom konkreten Anwendungsfall ab. Wenn ich als Nutzer für eine App zum Beispiel nichts bezahlen muss, sondern im Gegenzug Werbung angezeigt bekomme, um so die App zu finanzieren, dann könnte der Entwickler mit Blick auf Privacy by Design dem Werbetreibenden nicht die kompletten Nutzerdaten geben, sondern ihm nur mitteilen, dass Werbung für zum Beispiel einen deutschen Mann einzuspielen ist. Inwieweit Sie das dann so empfinden, dass Sie Herr Ihrer Daten bleiben, ist eine andere Frage. Womöglich sind Sie ja grundsätzlich nicht damit einverstanden, dass Ihre Daten für Werbezwecke erfasst werden – was jedoch für die Nutzung der App zwingend ist.

Ist Privacy by Design in der Produktentwicklung schwierig umzusetzen, verursacht sie zusätzliche Kosten?

Nicht zwingend. Früh in die Software eingebaut, erspart Privacy by Design mir später womöglich teure Umbauten. Die neue EU-Datenschutzgrundverordnung sieht zudem empfindliche Strafen für Datenlecks vor. Wenn ich zum Beispiel von vornherein auf die Erhebung mancher, eigentlich nicht benötigter Daten verzichte oder die Daten verschlüssele, dann schützt das die Privatsphäre des Nutzers und bewahrt womöglich auch das Unternehmen vor Strafen im Falle eines Datenlecks.

Welche Rolle spielt Privacy by Design im Markt?

Die Verbreitung wird zunehmen. Durch die verschärften rechtlichen Rahmenbedingungen in Europa wird das Risiko für Unternehmen größer, die die Privatsphäre nicht ausreichend schützen oder gegen entsprechende Auflagen verstoßen. Die Sorge wegen möglicher finanzieller Folgen wird daher als Beschleuniger für Privacy by Design wirken. Bislang hatten wir das Problem, dass es wenig Sanktionsmöglichkeiten gab, deshalb mussten betroffene Unternehmen selbst in gravierenden Fällen kaum Konsequenzen fürchten.

Zur Person:

Dr. Steven Arzt ist Informatiker am Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie SIT in Darmstadt. Das Fraunhofer SIT ist einer der vier Träger des Center for Research in Security and Privacy (CRISP). Bund und Land Hessen fördern das CRISP als eines der deutschen Kompetenzzentren für Cybersicherheit. Zusammen mit Kollegen aus Darmstadt und Paderborn hat Steven Arzt im vergangenen Herbst den Deutschen IT-Sicherheitspreis erhalten. Das Team bekam den Preis für die Entwicklung einer Analysetechnik, mit der sich der Informationsfluss von Apps nachvollziehen lässt, beispielsweise wohin eine App Daten versendet, auch wenn der Entwickler dies bewusst verbergen wollte.

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Michael Vogel

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