Die entscheidende Strategie

Gelb, rot – aus?

Die Gerechtigkeit in Person?
Ein Fehlurteil ist sicher die schwerste Bürde eines Richters. Doch wie gelingt es, eine gute Entscheidung zu treffen? Das Strafgesetzbuch und die Regelungen für die Strafprozessführung definieren klare Kriterien. „Ich bin sicher, dass meine Urteile ein Höchstmaß an Objektivität aufweisen“, sagt Ralf Rose, Vorsitzender des Jugendschöffengerichts am Amtsgericht Böblingen. „Aber ich mache keinen Hehl daraus, dass ich nur ein Mensch bin.“
Das deutsche Strafrecht sieht einen Ermessensspielraum vor – wie subjektiv darf ein Urteil letzten Endes sein? Das Jugendschöffengericht in Böblingen etwa behandelt viele Fälle sexuellen Missbrauchs, in denen die Opfer Kinder oder Minderjährige sind. „Diese Fälle berühren mich natürlich persönlich, insofern gibt es einen subjektiven Rahmen. Der objektive Rahmen ermöglicht immerhin eine gewisse Spanne an Strafen. In dieser Spanne habe ich mich zu bewegen und das ist auch gut so.“
Eine Studie lässt vermuten, dass Richter manchmal zu sehr auf ihren Bauch hören – buchstäblich: So würden Urteile kurz vor der Mittagspause oder kurz vor Feierabend häufig härter. Der Verdacht liegt nahe, dass sie aufgrund von Hunger oder Müdigkeit schneller, vereinfachender und ungnädiger entscheiden. Rose kennt die Studie und hält sie für glaubwürdig. „Als erfahrener Richter bin ich mir jedoch meiner Subjektivität bewusst und betrachte meine Tendenz noch mal distanziert, bevor ich ein Urteil fälle. Gut frühstücken hilft außerdem.“
Was kommt in die Zeitung?
Welche Themen auch immer in die Zeitung des nächsten Tages sollen, zum Redaktionsschluss müssen die Artikel fertig sein. Entstehen durch Stress Fehler? „Die meisten Kollegen werden unter Zeitdruck eher besser“, sagt Detlef Esslinger, stellvertretender Ressortleiter Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung. „Sie sind dann konzentrierter und sicherer.“

Der Journalist erinnert sich an eine prägende Fehleinschätzung – und die hatte nichts mit Zeitdruck zu tun: Im Jahr 2000 hieß es, im sächsischen Sebnitz sei der sechsjährige Joseph Abdulla im Freibad von Neonazis ertränkt worden. „Mehr oder weniger alle Medien hatten sich auf diese Version festgelegt; auch ich habe unseren Korrespondenten besten Wissens und Gewissens in die Richtung gedrängt, das so zu schreiben. Es hat sich wenige Tage später als grundfalsch herausgestellt.“ Esslingers Quintessenz: „Nie dem Herdentrieb folgen. Ein Vorgehen nach dem Motto ‚Wird schon stimmen’ passiert mir hoffentlich nicht mehr.“
Sein Kollege Michael Maurer ist stellvertretender Chefredakteur der Stuttgarter Zeitung und Leiter des Titelteams. Das heißt, er entscheidet, was Aufmacher wird, also von der Zeitung als wichtigstes Thema betrachtet wird. Dem 57-Jährigen ist bewusst, dass auch ihm Fehler unterlaufen können: „Wer im Journalismus nicht an sich selber zweifelt, macht irgendwas falsch. Denn wir betreiben keine exakte Wissenschaft. Wir treffen Entscheidungen auf der Basis von Informationen, die wir über verschiedene Kanäle bekommen haben, auf der Basis von eigener Einschätzung und auf der Basis der Erwartungshaltung der Leser.“ Umso wichtiger sei Intuition. Und doch: „Viele Entscheidungen hätte man mit gleich guter Begründung auch anders treffen können.“
ABC der Erstversorgung
Airway, Breathing, Circulation: klare Regeln, klares Vorgehen – nicht willkürlich festgelegt, sondern der Rangfolge der körperlichen Bedürfnisse entsprechend. Dagmar Schindler, 42, ist Anästhesistin, Intensivmedizinerin und Notärztin. Als solche flog sie zwei Jahre lang auf dem in Ludwigshafen stationierten Rettungshubschrauber Christoph 5 – einem der deutschlandweit am stärksten frequentierten Rettungshelis. „Das ABC-Schema ist wichtig und gut, um sich an etwas festzuhalten, wenn du zu einem Einsatz kommst. Das ist ja jedes Mal eine emotional aufgeladene Situation.“ Schnellstmöglich muss ein Überblick her: Wie viele Verletzte gibt es, müssen weitere Ärzte angefordert werden, wenn ja, wie viele? „Das sind Einordnungen aus dem Unterbewussten. Auch bei der Sichtung der Verletzten: Du denkst vielleicht, du triffst eine Bauchentscheidung, aber eigentlich ist es Erfahrung. Du kannst die Entscheidung treffen, weil du so eine Situation schon 20 Mal gesehen hast.“
Eine Situation ist der Notärztin besonders in Erinnerung geblieben. „Ein Kind war involviert – da hast du dann Angst, was dich erwartet.“ Zwar bereitet die Leitstelle den Notarzt vorab so gut wie möglich vor, aber vor Ort stellt sich die Situation oft ganz anders dar. Das Kind saß in einem Auto, das sich überschlagen hatte. „Ich hatte ein ganz schlechtes Bauchgefühl. Die Vitalparameter waren gut, aber mein klinisches Gefühl war ein anderes. Das Kind war blass und kaum ansprechbar. Letzten Endes war es seelisch traumatisiert, aber körperlich o.k. – meine Intuition war glücklicherweise falsch gewesen.“ Schindlers Quintessenz: „Jede intuitive Entscheidung muss rational verifiziert werden.“ Als Notarzt heißt das: so schnell wie möglich in die Klinik.
Kurs Richtung Sicherheit
Ulrike Münzer ist seit 27 Jahren Fluglotsin bei der Deutschen Flugsicherung: „Es gibt verschiedene Sparten bei uns. Ich bin für die Streckenkontrolle zuständig, sitze am Radarschirm. Ein Flieger kommt in meinen Bereich, der Pilot nimmt Kontakt auf.

Meine Entscheidungen sind scheinbar klein: Welchen Flieger drehe ich nach links oder nach rechts, und was ist besser? Wen nehme ich runter? Je nach Frequenz stehe ich ganz schön unter Zeitdruck. Wenn immer mehr Flugzeuge in meinen Bereich kommen, kann ich nicht sagen: Ich warte fünf Minuten und suche erst mal nach der perfekten Lösung. Ich muss schnell entscheiden: Erstens: Was ist die sicherste Lösung? Und dann: Was spart dem Flugzeug Strecke?“ Münzers Luftraum liegt südöstlich von Frankfurt, es ist einer der am stärksten frequentierten Lufträume in Europa.
„Etwa 20 Minuten vor dem Erscheinen eines Fliegers auf meinem Radar bekomme ich Informationen über ihn. Ich habe dann schon ein Bild im Kopf, was mich in nächster Zeit erwartet. Aber manchmal ändert sich die Planung durch Gewitter oder Ähnliches. Dann muss ich schnell schalten und eine neue sichere Entscheidung treffen. Bei Auszubildenden im Training merke ich oft: Die überlegen zu lange. Dann kommt schon der nächste Flieger und der übernächste, und wenn es dann zu lange dauert, wird man total überrollt vom Verkehrsaufkommen.“ Um 100 Auszubildende zu gewinnen, werden im Schnitt 6.000 Bewerber gesehen. Konzentrationsfähigkeit, Schnelligkeit, räumliches Vorstellungsvermögen, Teamfähigkeit, Mehrfachbelastbarkeit, Stressresistenz: Lotsen müssen viele Skills mitbringen.
„Über die Jahre wird es leichter, Entscheidungen zu treffen, weil man viele Situationen kennt. Man kennt den Luftraum, den man bearbeitet und die Probleme in diesem Luftraum. Die Erfahrungswerte spielen also eine wichtige Rolle. Dennoch: Wenn es stressig wird, dann ist der Stress extrem. Weil ich nicht in Ruhe überlegen kann, sondern die Entscheidung sofort fällen muss.“ Wenn ein Flugzeug auf Kollisionskurs ist, geht 90 Sekunden vor einer gefährlichen Annäherung ein Warnsignal an. „Klar, der Computer macht viel. Aber im Endeffekt muss ein Lotse selbst erkennen, was für Probleme möglicherweise entstehen. Mit der Verantwortung muss man leben können. Wenn man zu viel zaudert und Angst hat, kann man nicht als Lotse arbeiten. Es gibt durchaus einige, die wieder aufhören.“