Wie’s der Zufall will

Republikaner oder Demokraten? Der Zufall hat Anfang Januar dieses Jahres darüber entschieden, welche der beiden Parteien im Parlament des US-Bundesstaates Virginia die Mehrheit der Abgeordneten stellt. Vorausgegangen war ein Patt bei der Abstimmung im 94. Bezirk: Bei der Wahl hatte der republikanische Kandidat 11.608 Stimmen erhalten – seine Konkurrentin von den Demokraten exakt genauso viele. Unentschieden. Für diesen sehr unwahrscheinlichen Fall sieht das Wahlgesetz des Bundesstaates den Losentscheid vor. Gezogen wurde der Name des Republikaners. Ist das fair oder unfair? Na ja, Zufall eben. Doch was darf der Zufall entscheiden und was lieber nicht?
Fußballteams bestimmen per Münzwurf, wer Anstoß hat. Über die Vergabe besonders begehrter Studienplätze entscheidet unter anderem das Los. In der Antike durfte der Zufall noch viel mehr: Selbst höchste politische Ämter wurden im alten Griechenland per Losverfahren besetzt. Im Buch „Demokratie und Lotterie“ spielt der Politologe und Ideengeschichtler Hubertus Buchstein diesen Gedanken für die heutige Zeit durch – er weiß aber auch: Um der Lotterie in der modernen Demokratie mehr Raum zu geben, bedürfte es „eines gesellschaftlichen Mentalitätswandels bezüglich der Akzeptanz des Zufälligen“.
Ohne Glück kein Erfolg?
Denn: Als Entscheider für die großen Weichenstellungen im Leben mögen wir den Zufall nicht. Ein Beispiel ist der berufliche Werdegang. Wir wollen daran glauben, dass mit Leistung und einer guten Portion Ehrgeiz alles möglich ist. „Jeder ist seines Glückes Schmied“, predigen die Karriereratgeber. Das Credo: Mit einem klaren Ziel vor Augen und ausreichend Selbstdisziplin kann sich jeder den Weg die Karriereleiter hinauf selbst bahnen.

Das Prinzip Zufall kommt allenfalls zum Tragen, wenn mal etwas misslingt. „Pech gehabt“, trösten wir uns dann. Hingegen würden nur wenige erfolgreiche Topmanager offen zugeben, vor allem Glück gehabt zu haben.
Forscher wie der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Robert H. Frank, Autor des Buches „Ohne Glück kein Erfolg“, jedoch sind überzeugt, dass der Einfluss von Ehrgeiz, Fleiß und Begabung auf den persönlichen Erfolg maßlos überschätzt wird. Beispiele? Gibt es zuhauf. Die IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung)-Studie von 2011 zeigt: Die Chance, bei gleicher Leistung vom Lehrer fürs Gymnasium empfohlen zu werden, ist für Kinder aus besserem Hause fast 3,5-mal größer als für Kinder aus einfachen Verhältnissen. Die Wahrscheinlichkeit, Lesen und Schreiben zu lernen, ist laut UNESCO für ein pakistanisches Kind nur halb so groß wie für ein deutsches. Kommt jemand als Junge oder als Mädchen zur Welt? Ist einer klein und hat eine leise Stimme oder groß und mit einem volltönenden Organ ausgestattet? Nachname, Haarfarbe, Geburtsdatum – lauter unterschätzte Parameter, die über Erfolg und Misserfolg im Leben entscheiden können.
Lieber erst einmal abwarten …
Aber Moment mal, wenn doch ohnehin Glück, Schicksal und Zufälle die entscheidenden Wegbereiter in unserem Leben sind: warum dann der Entscheidungsstress? In ihrem Buch „Dinge geregelt kriegen ohne einen Funken Selbstdisziplin“ singen die Journalistin und Schriftstellerin Kathrin Passig und Sascha Lobo, Blogger und Journalist, das Loblied aufs Aufschieben.
Statt die Dinge durch gezielte Entscheidungen aktiv lenken zu wollen, plädieren die beiden Autoren für das „Prokrastinieren“, also dafür, lieber erst einmal abzuwarten und Anstehendes hinauszuzögern. Ihre These: „Im Prinzip lässt sich alles Machbare aufschieben, sogar vollkommen Unumgängliches kann man bequem unterlassen. Die Konsequenzen sind breit gefächert. Oft passiert nichts.“ Aber ob dadurch der Berg von Entscheidungen, vor dem wir täglich stehen, wirklich kleiner wird? Schließlich ist ja die Entscheidung, nichts zu tun, auch schon wieder eine Entscheidung, die getroffen werden muss. Es führt kein Weg daran vorbei: Auch wenn der Zufall uns vieles abnimmt – irgendwann müssen wir doch selbst ran. Aber wie sollen wir uns bloß entscheiden? Auf wen sollen wir hören: auf den Kopf, auf den Bauch? Oder lieber doch noch ein bisschen abwarten, was der Zufall bringt?
Die Beine mitentscheiden lassen
Felix Schürholz ist als Entscheidungscoach in München tätig und kennt das Phänomen, dass sich immer mehr Menschen einem immer höheren Entscheidungsdruck ausgesetzt sehen. „Die Welt dreht sich heute gefühlt schneller, weil wir viel mehr Informationen verarbeiten müssen. Die Konzentration aufs Wesentliche wird dadurch immer schwerer“, so Schürholz.

Statt Entscheidungen von großer Tragweite aufzuschieben bis zum letzten Moment, rät er dazu, aktiv und vorausschauend zu handeln. Decision Timing nennt der Coach diesen Ansatz, zu dem er auch ein gleichnamiges Buch geschrieben hat. „Setzen Sie sich einen Zeitpunkt, an dem Sie entscheiden wollen, und nutzen Sie die Zeit bis dahin, um die Entscheidung zu entwickeln. Spielen Sie sie auf allen Sinnesebenen durch“, so Schürholz. Als Beispiel nimmt er den Autokauf: Wie würde der Motor klingen? Wie riechen die Sitze? Wie fährt der Wagen sich in einem engen Parkhaus?
Die Frage, ob eine Entscheidung besser der Kopf oder der Bauch treffen sollte, ist für Felix Schürholz heute nicht mehr zeitgemäß. Er findet: Die Beine sollen mitentscheiden! „Gute Entscheidungen können wir nur treffen, wenn wir uns in Gang setzen, ausprobieren und ganz konkrete Erfahrungen machen zu den Entscheidungen, die anstehen“, sagt er. Den Zufall könne man dabei wunderbar mit ins Boot holen, um eingefahrene Entscheidungsmuster zu durchbrechen. Wer beispielsweise vorhabe, ein Haus zu kaufen, sollte sich zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten und an ganz verschiedenen Orten immer wieder mit der Entscheidung auseinandersetzen. „Suchen Sie nicht nur in einer Region, schauen Sie in Frage kommende Objekte zu wechselnden Tageszeiten an, ziehen Sie nicht immer mit derselben Person los“, so Felix Schürholz. „Es geht darum, sich in Bewegung zu setzen und andere zufällig gewählte Perspektiven einzunehmen. So kann es gelingen, sich von den äußeren Bedingungen freizumachen und bei weitreichenden Entscheidungen zu neuen, besseren Lösungen zu finden.“