Menschen & Meinungen

Demokratie lebt vom Diskurs

Foto: Stephanie Mitchell
„Gemeinwohl ist mehr als die Summe von Einzelinteressen“, sagt der US-Philosoph Michael J. Sandel. Ein funktionierendes Gemeinwesen erfordere das Gespräch und die Bereitschaft, sich auf unterschiedliche Werte und Sichtweisen einzulassen. Statt zu dozieren, regt der Harvard-Professor deshalb Menschen in aller Welt mit geschickten Fragen zum Nachdenken über Moral und Gerechtigkeit an.

Wenn Michael Sandel die Bühne betritt, geht es oft um Leben und Tod: Darf man dem 17-jährigen Schiffsjungen die Kehle durchschneiden, sein Blut trinken und ihn aufessen? Nicht aus schierer Mordlust, sondern um damit das eigene Leben und das von zwei weiteren Schiffbrüchigen zu retten, die seit 20 Tagen ohne Trinkwasser in einem kleinen Rettungsboot auf dem Südatlantik treiben? So wie es 1884 der vierköpfigen Crew der britischen Segeljacht „Mignonette“ erging, deren Kapitän Dudley sich für sein Handeln später vor Gericht verantworten musste: unverzeihlicher Mord an einem Crew-Mitglied oder mutige, der Situation angemessene Rettung der übrigen Mannschaft?

Per Handzeichen lässt der Professor die Studenten im großen Hörsaal abstimmen, dann bittet er einzelne, ihre Entscheidung pro oder kontra Kannibalismus zu begründen. Geschickt nimmt er die vorgebrachten Argumente auf und ergänzt das Szenario um weitere Details: Macht es einen Unterschied, dass der Schiffsjunge eine ledige Waise ist, während die anderen Männer zu Hause eine Familie zu ernähren haben? Ist der Mord gerechtfertigt, weil der Junge bereits sehr geschwächt ist und vermutlich ohnehin als Erster sterben wird? Oder wäre den Überlebenden der Verzehr ihres Kameraden moralisch nicht weiter vorzuwerfen, wenn alle vorher einvernehmlich ausgelost hätten, wer von ihnen zugunsten der anderen drei sterben soll?

Eine allgemeingültige Antwort auf das moralische Dilemma findet sich heute wie damals nicht – wohl aber unterschiedliche, nachvollziehbare Ansichten. Genau darauf will der Professor hinaus. Seine anschauliche Vorlesungsreihe „Justice“ (Gerechtigkeit) hat den amerikanischen Philosophen weit über die Grenzen seines Faches und seines Heimatlandes hinaus bekannt gemacht. In Harvard, wo Michael Sandel seit 1980 lehrt, zählt seine Einführung in die politische Philosophie zu den bekanntesten und beliebtesten Kursen: Der altehrwürdige Saal des Sanders Theatre auf dem Campus ist regelmäßig bis auf den letzten der fast 1.200 Plätze besetzt, wenn der schlanke Mittsechziger dort spricht: stets im eleganten Anzug und mit sichtbarer Freude am Dialog und an gegensätzlichen Argumenten.

Politische Philosophie, wie ich sie verstehe, lässt sich auf die öffentlichen Belange ein.

Michael J. Sandel

Das Strafverfahren gegen Dudley und Stephens von 1884

Das Strafverfahren gegen Dudley und Stephens von 1884 gilt als einer der herausragenden Prozesse in der britischen Justizgeschichte.

Kannibalismus nach einem Schiffbruch war damals kein Einzelfall und galt als eine Art Gewohnheitsrecht („Customs of the Sea“). Die breite Öffentlichkeit und sogar der Bruder des Getöteten zeigten volles Verständnis für die Tat.

Der Staat wollte die moralisch fragwürdige Praxis allerdings durch einen Präzedenzfall für alle Zeiten beenden. Kapitän Dudley und ein weiteres Besatzungsmitglied wurden deshalb nach längerem Hin und Her zunächst wegen Mordes zum Tode verurteilt. Kurz darauf wurde das Strafmaß dann aber doch auf sechs Monate Haft wegen Totschlags reduziert. Dudley selbst fühlte sich vollkommen unschuldig und akzeptierte nie, dass er überhaupt zu irgendeiner Strafe verurteilt worden war.

Quelle: Wikipedia

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Raus aus dem Elfenbeinturm

Auch wer nicht an der amerikanischen Eliteuniversität studiert, kann sich von Sandel inspirieren lassen. „Justice“ ist der erste Harvard-Kurs, der im Internet vollständig und kostenlos verfügbar ist und auch schon im Fernsehen gezeigt wurde. Allein die Lektion „The Case for Cannibalism“ über die Crew der „Mignonette“ wurde bei YouTube mehr als 2,5 Millionen Mal heruntergeladen. Außerhalb der Universität veranstaltet der Professor regelmäßig Fernsehdebatten oder tritt bei öffentlichen Großveranstaltungen auf. Unter anderem hat er schon St Paul’s Cathedral in London und ein riesiges Sportstadion in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul gefüllt.

Seine komplette Karriere hat Sandel, der als Stipendiat in Oxford promoviert hat, bevor er nach Harvard kam, in einem äußerst elitären wissenschaftlichen Umfeld verbracht. Dennoch ist er kein dem täglichen Leben entrückter Theoretiker – ganz im Gegenteil: „Politische Philosophie, wie ich sie verstehe, lässt sich auf die öffentlichen Belange ein“, sagt er. Ihm geht es darum, sich offen mit den zentralen Fragen auseinanderzusetzen, die das Zusammenleben als Gesellschaft mit sich bringt. Sein Vorbild ist der antike Philosoph Sokrates, der in den Straßen Athens und am Hafen von Piräus stets das Gespräch mit den Menschen suchte: „Philosophen sollten sich nicht als Menschen verstehen, die Fragen beantworten, sondern als solche, die Fragen stellen“, sagt er.

Statt zu dozieren, wirft auch Sandel in seinen Vorlesungen und Vorträgen lieber Fragen auf, die sein Publikum zum Nachdenken und Debattieren über Moral und Gerechtigkeit animieren: Ist es gerechtfertigt, ein oder mehrere Leben zu opfern, wenn man damit viele andere rettet? Kann man den Wert eines Menschenlebens unter Kosten-Nutzen-Aspekten in Dollar oder Euro kalkulieren, beispielsweise, wenn es um sichere Autos oder den Zugang zu teuren Therapien geht? Darf der Staat den Bürgern Schutzmaßnahmen aufzwingen, beispielsweise Genussmittelverbote, Helm- oder Gurtpflicht, um ihre Arbeitskraft zu erhalten und Sozial- oder Krankenhauskosten zu vermeiden? Sind nationale Steuergesetze mit individuellen Eigentumsrechten vereinbar? Verpflichtet die Staatsangehörigkeit zum Militärdienst und, falls ja, darf man sich davon freikaufen? Gibt es überhaupt so etwas wie Chancengleichheit, wenn Faktoren wie Glück, angeborene Talente oder die schlichte Reihenfolge der Geburt (Studien belegen, dass Erstgeborene im Leben oft erfolgreicher sind als ihre jüngeren Geschwister) wesentlichen Einfluss auf beruflichen Erfolg und Einkommen haben? Und falls nicht: Muss der Staat dann mehr Gleichheit zulasten der Erfolgreichen herbeiregulieren?

Michael Sandels zentrales Anliegen als Philosoph lautet, Moralfragen zurück in die politische Debatte zu bringen, die für sein Empfinden heute weltweit zu stark von einer technokratischen, utilitaristischen Perspektive bestimmt wird und wo die Ökonomie zunehmend die Ethik ersetzt. Wer vor moralischen Fragen zurückschrecke, überlasse deren Beantwortung dem Markt, warnt Sandel. Das sei ein verhängnisvoller Weg, der zur Aufgabe des Allgemeinwohls und zur Auflösung der bürgerlichen Gemeinschaft führe. Das Gemeinwohl sei mehr als die Einzelinteressen, die sich zueinander addieren und einander gleichgültig sind. Auch wenn es oft anstrengend sei, wären Streit und Diskussionen unerlässlich: „Erst im Gespräch, indem man sich aufeinander einlässt, entsteht das Gemeinwesen“, sagt Michael Sandel. Indem man sich für die Haltung der anderen öffne, entstehe die Möglichkeit, eigene Vorstellungen zu hinterfragen und zu ändern.

Michael J. Sandel

Michael J. Sandel ist ein US-amerikanischer Philosoph und lehrt seit 1980 politische Philosophie an der Harvard University.
Michael J. Sandel ist ein US-amerikanischer Philosoph und lehrt seit 1980 politische Philosophie an der Harvard University. Foto: Jared Lee

Michael J. Sandel, geboren 1953 in Minneapolis, ist politischer Philosoph. Nach seiner Schulzeit in Kalifornien studierte er an der Brandeis University in Massachusetts und promovierte als Rhodes-Stipendiat in Oxford. Seit 1980 lehrt er in Harvard. Seine Vorlesungsreihe „Justice“ machte ihn weltweit populär. Seine Bücher „What Money Can’t Buy: The Moral Limits of Markets“ und „Justice: What’s the Right Thing to Do?“ sind internationale Bestseller und auch auf Deutsch erhältlich. Sandel gilt als Vertreter des Kommunitarismus (lat. communitas = Gemeinschaft), einer politischen Philosophie, die im Gegensatz zum Liberalismus die Verantwortung des Individuums gegenüber seiner Umgebung und die soziale Rolle der Familie betont. Nur auf Basis gemeinsamer Wertvorstellungen, vor allem auf der Grundlage einer gemeinschaftlichen Konzeption des Guten, könne sinnvoll über die Grundsätze der Gerechtigkeit verhandelt werden.

Kirstin von Elm

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