Unternehmen & Märkte

Produkt­ent­wick­lung gemeinsam denken

Foto: Ruslan Bardash/Unsplash
Vor allem größere Unternehmen öffnen ihre Innovationsprozesse und entwickeln Produkte und Dienstleistungen kollaborativ mit Kunden oder Geschäftspartnern. Co-Creation ist in den vergangenen Jahren vom Marketinginstrument zur strategischen Managementdisziplin geworden. Um von der Weisheit der vielen auch tatsächlich zu profitieren, ist ein strukturiertes Vorgehen wichtig.

Armer Billy! Wie viele Flüche musste sich das berühmt-berüchtigte Regal im Laufe der Jahre schon anhören! Zu teuer, zu billig, zu viele Schrauben, zu wenig Löcher und dann diese bizarre Aufbauanleitung… Jammern über schwedisches Mobiliar zum Selberaufbauen ist Volkssport – und verliert doch zunehmend seine Berechtigung. Denn niemand kann heute noch überzeugend die Rolle des Kunden spielen, der klaglos zu konsumieren hat, was die Unternehmen produzieren. Längst hat das Web 2.0 mit seinen interaktiven Möglichkeiten die gewöhnlichen Verbraucher in den Rang von Kommentatorinnen und Produktbewertern, von Ideengeberinnen und Mitentwicklern erhoben. Nicht meckern, sondern mitmachen heißt die Devise – zum Beispiel auf der Plattform Co-create IKEA. Hier lädt das Möbelhaus Interessierte ein, sich aktiv an der Weiterentwicklung von Produkten zu beteiligen und eigene Ideen einzubringen. Wer Billy besser machen will, hat hier Gelegenheit dazu.

Wie IKEA öffnen vor allem größere Unternehmen ihre Innovationsprozesse immer häufiger für Kunden, Mitarbeiter und Geschäftspartner. Technisch gesehen ist das längst kein Problem mehr. Und nach Ansicht von Catharina van Delden tun die Firmen gut daran, diese Chance zur Co-Creation, zur kollaborativen Entwicklung, zu nutzen. „Unternehmen, die ihre Stakeholder in die Prozesse mit einbeziehen, werden schneller weiter sein als die Unternehmen, die nur wollen, dass gekauft wird, was sie herstellen“, sagt die Geschäftsführerin und Gründerin von innosabi, einem Anbieter von Softwarelösungen für Ideen- und Innovationsmanagement. 

2010 von van Delden und drei Studienkollegen gegründet, ging innosabi 2011 mit der Innovationsplattform unserAller.de an den Start. Dafür bauten die Jungunternehmer eine Co-Creation Community für Konsumgüter auf und boten sie Unternehmen für Innovationsprojekte an. Für den Kosmetikhersteller Manhattan beteiligte sich die Community an der Entwicklung eines neuen Nagellacks, für Ford wurde über unserAller.de ein Innenausstattungskonzept co-kreiert. „Co-Creation in dieser Form war damals noch völlig neu für die meisten Unternehmen. Um erste Erfahrungen zu sammeln, hat man sich eher auf einzelne Produkte konzentriert und den Ansatz noch nicht strategisch im gesamten Unternehmen verankert“, so Catharina van Delden.

Hände weg von schnellen PR-Aktionen

Viele Co-Creation-Projekte waren in dieser Phase klar marketinggetrieben. Die Kunden wurden vor allem über ihre Rolle als Käufer definiert und aufgefordert, Ideen einzureichen – die dann oft höchstens ansatzweise berücksichtigt wurden. Doch es ist riskant, Co-Creation nur als schnelle PR-Aktion zu sehen und nicht richtig durchzuplanen. Denn jeder Kunde, der sich in den Entwicklungsprozess einbringt, Zeit und Hirnschmalz investiert, ist zu Recht enttäuscht, wenn dieses Engagement nicht gewürdigt wird. Und auch den Frustrierten bietet das Internet bekanntermaßen mannigfaltige Möglichkeiten, Dampf abzulassen – jedes Unternehmen, über das schon einmal ein Shitstorm hinweggezogen ist, kann ein Lied davon singen.

„Klar definierte Prozesse und die richtigen Software-Tools“ empfiehlt innosabi-Gründerin van Delden, um sicherzustellen, dass Gemeinschaftskreationen nicht aus dem Ruder laufen. „Auch wenn es um Kollaboration und Ideengenerierung geht, sind Prozesse unerlässlich“, so Catharina van Delden. „Sonst kommt schnell etwas heraus, was nicht umsetzbar ist.“ Wichtig ist es ihr zufolge, in Phasen zu denken und den richtigen Mix zwischen offener Dimension und strukturiertem Prozess zu finden.

Foto: Ruslan Bardash/Unsplash

Komm in die Community

Eine zentrale Rolle bei der Co-Creation spielt die jeweilige Community, also die Gruppe von Menschen, die als Partner in die Entwicklungsprozesse mit eingebunden werden. Für Unternehmen gibt es verschiedene Möglichkeiten, an eine Community zu kommen.

Eine Option ist es, auf eine bestehende Community eines Crowdsourcing-Anbieters zuzugreifen: So bietet beispielsweise die Crowdsourcing-Plattform „ISPO Open Innovation“  Sportartikelherstellern an, Zugang zu „sportbegeisterten Konsumenten aus der ganzen Welt“ zu erhalten. Diese haben sich zuvor auf der Plattform registriert und können dann ausgewählt werden, um neue Sportprodukte mit zu entwickeln oder zu testen. Die andere Möglichkeit ist es, eine eigene Co-Creation-Community aufzubauen. Das kann für Unternehmen sinnvoll sein, die Co-Creation langfristig und nicht nur punktuell für einzelne Projekte nutzen wollen. Vorteil der unternehmenseigenen Community ist, dass sich die Teilnehmer, die sich hier registrieren, dem Unternehmen in aller Regel in besonderer Weise verbunden fühlen. Ein eindrückliches Beispiel für eine solche Gemeinschaft ist Lego-Ideas: Auf der Co-Creation-Plattform des dänischen Spielzeugherstellers tummeln sich Lego-Enthusiasten aller Couleur, um eigene Produktideen zu präsentieren, über Vorschläge abzustimmen oder Feedback zu geben. Regelmäßig werden Ideenwettbewerbe ausgerufen und Preise für die Fan-Kreationen ausgelobt – damit führt Lego auch exemplarisch vor, wie Co-Creation zur Kundenbindung eingesetzt werden kann. Die besten Ideen werden produziert, zum Beispiel das Zuhause der TV-Steinzeitfamilie „Die Feuersteins“.

Doch nicht nur Publikumslieblinge wie die bunten Plastiksteinchen eignen sich für die gemeinschaftliche Weiterentwicklung. Auch weniger emotionale Produkte oder Dienstleistungen können von den Ideen und Rückmeldungen ihrer Kunden profitieren. So hat beispielsweise die Postbank mit ihrem „Ideenlabor“ eine eigene Co-Creation-Plattform aufgesetzt. Kunden und Mitarbeiter können hier neue digitale Angebote des Finanzdienstleisters evaluieren, konzipieren oder testen. Ein siebenköpfiges Team managt die Co-Creation-Prozesse, um ein strukturiertes Vorgehen zu gewährleisten. Und selbst die Arbeitsagentur ruft in ihrer „Ideenwerkstatt“ Interessierte auf, Ideen für neue Kommunikationsformate und Leistungen einzubringen, um den Service zu verbessern und „optimal an den Bedürfnissen der Zielgruppen auszurichten“.

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Vom Marketing-Tool zur Managementdisziplin

Vom punktuell eingesetzten Marketing-Tool hat sich die Co-Creation mittlerweile zur Managementdisziplin gemausert. Die Vorteile liegen auf der Hand: Kunden, Mitarbeiter und Zulieferer sind einem Produkt oft am nächsten. Wer sie und ihre Bedürfnisse von Anfang an in die strategische Entwicklung mit einbezieht, reduziert das Risiko von Fehlschlägen und generiert neue kreative Ideen – Produktakzeptanz und -qualität steigen ebenso wie der Innovationsgrad. In Zeiten immer kürzerer Produktlebenszyklen lassen sich auf diese Weise Zeit und Geld sparen: Die so wichtige „Time to Market“ wird verkürzt, zudem verringern sich die Kosten für Forschung und Entwicklung.

Je nach Zielsetzung kann eine Co-Creation Community – wie im Fall von Co-create IKEA – Tausende von Endkunden und Mitarbeitern umfassen. Ebenso gut kann sie aus einem relativ kleinen Kreis von Spezialisten bestehen, etwa wenn es um bestimmte Fachthemen geht. So hat das Weinheimer Technologieunternehmen Freudenberg vor vier Jahren Plattformen zu bestimmten unternehmensrelevanten Schlüsselthemen etabliert. Experten aus den verschiedenen Geschäftsbereichen treffen sich hier, tauschen Wissen aus und entwickeln neue Technologien – wie im Fall des Projekts „Atomistische Simulationen“, das im Juni 2019 den „Freudenberg Innovation Award“ erhalten hat. Ausgezeichnet wurde damit ein neuartiges Verfahren, mit dem sich die Reibung von Materialien, Schmierstoffen und Dichtungen auf grundlegend neue Weise verstehen und optimieren lässt. Konzipiert hat dieses Verfahren ein Team von Entwicklern und Technikern aus vier unterschiedlichen Freudenberg-Geschäftsbereichen sowie Wissenschaftlern des Fraunhofer-Instituts für Werkstoffmechanik. „Freudenberg ist ein dezentral aufgestelltes Unternehmen. Mit den Technologieplattformen wurde ein Ort geschaffen, an dem abteilungsübergreifend strategische Innovationsarbeit stattfindet“, erklärt Dr. Ravindrakumar Bactavatchalou, Abteilungsleiter Tribologie bei Freudenberg Technology Innovation und Manager des strategischen Programms „Atomistic Simulation of Tribological Contacts“. Die Herausforderung dieser Art der Kollaboration sieht er darin, dass trotz der unterschiedlichen Tätigkeiten im Unternehmen alle Teilnehmer einer Plattform in die gleiche Richtung denken. „Wir haben zwar alle einen gemeinsamen Nenner, in unserem Fall die Reibungslehre, trotzdem sind wir ständig am Diskutieren“, hat er festgestellt. „Aber das ist gerade das Spannende – und es lohnt sich.“

Reine Ideenkreation war gestern – heute geht es darum, die Community in alle Stufen der Produktentwicklung einzubinden

Die Nähe zum Thema und zum Unternehmen, die im B2B-Kontext selbstverständlich ist, hat sich auch bei der Kollaboration mit Endkunden als effektiv erwiesen. „Wenn Co-Creation langfristig und strategisch eingesetzt werden soll, funktioniert das nur mit einer eigenen Community“, so die Erfahrung von Catharina van Delden von innosabi. Ihre Begründung: Die Ideen von Leuten, die eine Affinität zum Unternehmen haben, reichten weiter als bis zur Farbe des Lenkrades oder zur Beschaffenheit von Sitzbezügen. „Es geht dann nicht mehr um das reine Ideenkreieren“, so van Delden. „Es geht darum, entlang der gesamten Produktentwicklung zu denken und Kunden, Zulieferer und Mitarbeiter auf jeder Stufe sinnvoll einzubinden.“ Dieser Erkenntnis folgend hat sich das Münchener Unternehmen weiterentwickelt: Die unserAller-Plattform ist mittlerweile Geschichte. Aus dem Dienstleister für Innovationsprojekte ist ein Softwareentwickler geworden. Heute bietet innosabi seinen Kunden das digitale Handwerkszeug, um eigene Communitys und Plattformen für kollaborative Innovationsprojekte aufzubauen und zu managen. „Es geht nicht mehr allein um Co-Creation, sondern allgemein darum, Prozesse offener zu gestalten“, so van Delden. „Unternehmen können heute nicht mehr allein entscheiden und die Digitalisierung wird diesen Trend noch weiter verstärken.“

Die Weisheit der vielen nutzen

Foto: Dmytro/Adobe Stock

Die verschiedenen Strategien und Maßnahmen, um Stakeholder am Innovationsprozess zu beteiligen, lassen sich begrifflich nicht klar voneinander abgrenzen. Als Oberbegriff kann das Schlagwort der Open Innovation gelten. Gemeint ist damit, dass Unternehmen ihre Innovationsprozesse über Abteilungs- und Unternehmensgrenzen hinaus öffnen. In die Entwicklung von Produkten oder Dienstleistungen fließen dann zum Beispiel Ideen von Kunden, Geschäftspartnern oder Mitarbeitern aus anderen Abteilungen ein. Ziel ist es, das Innovationspotenzial auf diese Weise zu vergrößern.

Im Rahmen der Open Innovation kann ein Unternehmen sich des Crowdsourcings bedienen. Der Begriff setzt sich zusammen aus Crowd und Outsourcing: Crowdsourcing setzt auf die Weisheit der vielen. Traditionell unternehmensinterne Aufgaben werden dabei ausgelagert an eine Vielzahl von (externen) Nutzern. Crowdsourcing kann bei Innovationsprozessen eingesetzt werden, aber ebenso in anderen Kontexten. Prominente Beispiele für Crowdsourcing-Projekte sind das Onlinelexikon Wikipedia oder das Navigationssystem Waze.

Auf Co-Creation setzen Unternehmen im Rahmen ihrer Innovationsstrategie. In Co-Creation-Projekten arbeitet das Unternehmen zusammen mit einer Gemeinschaft (Community) von freiwilligen Stakeholdern an einem konkreten Produkt oder einer Dienstleistung. Die Community kann von der Idee über die Entwicklung bis zum Verkauf an dem neuen Produkt beteiligt sein. Co-Creation kann im größeren Maßstab mit einer Crowd stattfinden. Ebenso gelten aber auch Workshops mit einer kleineren Gruppe von ausgewählten Spezialisten, Mitarbeitern und/oder Kunden als Co-Creation.

Nicole Pollakowsky

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