Unternehmen & Märkte

Eine Branche erfindet sich neu

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Kohleausstieg, erneuerbare Energien, Digitalisierung – die Energieversorger erleben massive Umwälzungen. Ruhigere Gewässer sind nicht in Sicht.

Früher war alles anders. Die Energieversorgung war ein stark reguliertes Geschäft, das sich von langer Hand planen und steuern ließ. Inzwischen ist der Energiemarkt durch Liberalisierung, die Energiewende und die Digitalisierung extrem komplex und volatil geworden. Ein Teil der Stromkundschaft wechselt häufig den Anbieter, was die Marge der Unternehmen drückt. Strom aus erneuerbaren Energien steht nicht so verlässlich zur Verfügung wie Atom- oder Kohlestrom. Zudem fällt aus Sonne oder Biomasse erzeugter Strom im Gegensatz zu klassischem Kraftwerksstrom oft dezentral und kleinteilig an. Stromspeicher, eine junge Technologie, sollen das puffern – verbunden mit einer intelligenten Steuerung der Netzauslastung. Die gelungene Orchestrierung all dieser Veränderungen ist das Smart Grid. Welche Rolle darin die einzelnen Energieversorger spielen, welche neuen Protagonisten sich auf dem Markt behaupten und wie die beste technische Lösung aussieht – das alles ist noch unklar. „Lange geltende Gewissheiten stehen nun infrage“, sagt Tobias Gehlhaar, Geschäftsführer des Bereichs Ver­sorgungswirtschaft für Deutschland, Österreich und die Schweiz beim Beratungsunternehmen Accenture. „Doch was nun im Einzelnen zu tun ist, darüber gibt es in den Unternehmen sehr unterschiedliche Wahrnehmungen.“

Der Wandel ist also gewaltig. Das Ausmaß zeigt sich auch bei den großen Energiekonzernen. Zum Beispiel EnBW: Bis 2025 will das Unternehmen weitere vier Milliarden Euro in den Aufbau von Solarfarmen und Windparks investieren. Perspektivisch positioniert sich EnBW jedoch als Infrastrukturkonzern mit drei Schwerpunkten: Breitband­ausbau, Entwicklung und Bau nachhaltiger Wohnquartiere sowie Ladesäulen für die E-Mobilität. Anders als etwa RWE: Das Unternehmen positioniert sich als reiner Energieerzeuger. In den ersten drei Quartalen 2020 hat RWE fast so viel Strom aus Sonne, Wind, Wasser und Biomasse erzeugt wie aus Braunkohle. Durch den Verkauf der Stromverteilnetz-Tochter Innogy an E.ON und die Übernahme des E.ON-Windenergiegeschäfts sind die beiden Konzerne nun keine Wettbewerber mehr.

Der Kampf um die Endkundschaft tobt

So versuchen manche Energieversorger, sich auch unabhängiger vom schwer umkämpften Endkundengeschäft zu machen: Preisvergleichsportale und neue Anbieter drücken dort massiv die Marge. Vor allem geht in diesem Feld nichts mehr ohne digitale Analyse- und Vertriebskonzepte. „Und das wird schwierig, wenn ein Energieversorger nur Adresse, Geburtsdatum und Vertrag von Kundinnen und Kunden kennt“, sagt Torsten Henzelmann, Senior Partner und Managing Director für Zentraleuropa bei Roland Berger. „Mit dem oberflächlichen Wissen bleibt die Kundschaft eine Blackbox und das reicht nicht, um die künftigen Kundenbedürfnisse zu verstehen, geschweige denn Zusatzgeschäft zu gene­rieren oder das Bestandsgeschäft zu skalieren.“

Die Elektromobilität ist ein weiteres Beispiel für die volatile Situation. Ladesäulen liefern Strom – und sind dadurch eigentlich ein natürliches Geschäftsfeld eines Energieversorgers. Das kann lukrativ sein in einem entwickelten Markt. Doch der Markt ist unreif. „Es gibt eine Vielzahl von Abrechnungs- und Betreibermodellen“, sagt Gehlhaar. „Zudem investieren viele Marktteilnehmende in das Ladenetz – Energieversorger, Start-ups, Automobil- und Mineralölkonzerne.“ Wer den Markt erobere, bleibe „auf absehbare Zeit“ unklar.

Weil so vieles im Fluss ist, sieht Gehlhaar die Energiever­sorger sowohl in der Personalentwicklung als auch beim Personalmarketing gefordert: „Sie sollten ihre Belegschaft viel stärker fachlich weiterentwickeln.“ Das habe noch gar nicht richtig begonnen. „Sie müssen Expertinnen und Experten im Unternehmen halten, indem sie ihnen Entwicklungspfade aufzeigen.“ Parallel geht es darum, Talente von außen zu gewinnen, die jene Fähigkeiten mitbringen, die im Unternehmen unterrepräsentiert sind.

Roland-Berger-Berater Henzelmann glaubt, dass die Energieversorger durchaus mit Pfründen auf dem Arbeitsmarkt wuchern können: „Themen wie Nachhaltigkeit, Energieversorgung der Zukunft und eine vernünftige Work-Life-Balance sind positiv besetzt.“ Für wichtig hält er auch branchenfremde Spezialistinnen und Spezialisten, Stichwort Diversity: „Traditionell sind Energieversorger ingenieurlastig aufgestellt. Sie könnten zum Beispiel von Telekommunikationsfachleuten profitieren, die sich mit Kundensegmentierung, Apps und Micro-Trading auskennen.“

Gefragt: Agilität und Projekt-Know-how

Energieversorger suchen Fachkräfte, deren Qualifikationen wenig mit dem traditionellen Geschäft zu tun haben. Hays-Experten benennen den Bedarf.

Umwälzungen, wie sie die Energiewirtschaft in den vergangenen drei Jahrzehnten – und in den letzten 20 Jahren davon sogar beschleunigt – erlebt hat, bringen auf dem Arbeitsmarkt zwangsläufig Gewinner und Verlierer hervor: Manche Qualifikationen sind kaum oder nicht mehr gefragt, andere dafür umso mehr oder gar erstmalig. Diese Umwälzungen lassen sich auch quantitativ an den Beschäftigtenzahlen ablesen, zum Beispiel bei RWE. „2005 hatte das Unternehmen noch 85.000 Mitarbeitende. Infolge der durch die Energiewende notwendigen Neuausrichtung zählt es heute nur noch knapp 20.000“, sagt Lars Janßen, Account Director bei Hays. „Ich rechne im Energiesektor auch künftig mit Zusammenschlüssen und Konsolidierungen, sodass die Zahl der Beschäftigten in der Branche vermutlich weiter sinkt.“

Dennoch – auch für die Energieversorger gilt: Sie suchen Fachkräfte und bieten diesen spannende Karrieremöglichkeiten, nur eben in anderen Aufgaben als früher. Zum Beispiel für Erneuerbare Energien: „Für den weiteren Ausbau der regenerativen Energien sind vor allem Ingenieure und Informatiker gesucht“, sagt Janßen. „Aber auch das Handwerk profitiert, zum Beispiel Photovoltaik-Anlagenbauer.“ Und sein Kollege Oliver Kienzler, Client Manager bei Hays, ergänzt: „Das ist typisches Projektgeschäft, in dem häufig Ingenieurbüros, freiberufliche IT-Fachkräfte oder qualifizierte Expertinnen und Experten in der Arbeitnehmerüberlassung zum Zuge kommen.“ Ähnlich gefragt sind Spezialistinnen und Spezialisten für den Netzausbau und den Aufbau des viel beschworenen Smart Grids, um trotz stärker fluktuierender Energieerzeugung das Stromnetz stabil zu halten. Hier seien insbesondere Engineering- und IT-Fachkräfte gesucht, so Janßen, für die es schon jetzt Engpässe auf dem Kandidatenmarkt gebe.

Gute Karten für alle, die agile Projektmethoden beherrschen

In den Unternehmen festangestellt werden künftig mehr Projektmanagerinnen und -manager arbeiten. „Sie formulieren gemeinsam mit den oft externen Fachleuten die Anforderungen“, so Kienzler. „Zudem klären sie die Auswirkungen eines Projekts auf das Unternehmen ab und sorgen für die passende Budgetierung.“ Zunehmend gefordert sei dabei ein Multiprojektmanagement, also die gleichzeitige Begleitung mehrerer Projekte – so, wie dies in der Automobilindustrie schon länger üblich sei.

Da die Digitalisierung und neue Vertriebsmodelle ein schnelles Handeln erfordern, hat das Thema Agilität für die Energieversorger eine hohe Bedeutung bekommen. Denn nur mit einem agilen Methodenansatz lassen sich Ideen und Prototypen rasch erproben – und bei Erfolg in ein Geschäftsmodell überführen. „Nicht nur in klassischen IT-Bereichen, sondern auch in neuen Geschäftsfeldern wie E-Mobilität oder Windkraft sind agile Projektmethoden gefragt, was zum Beispiel Scrum Coaches, Scrum Mastern oder Product Ownern zum Vorteil gereicht“, sagt Kienzler. „Bei der technischen Umsetzung einer Softwarelösung müssen Kandidatinnen und Kandidaten die Fähigkeit mitbringen, Entwicklung und IT-Administration aus einer Hand strukturiert miteinander zu verbinden – Stichwort DevOps.“ Aufgrund des großen Nachholbedarfs gerade bei modernen Vertriebsmodellen sieht Janßen durchaus große Chancen für „digitale Talente, die bislang in anderen Branchen aktiv waren“, etwa Data Scientists oder Social-Media-Managerinnen und -Manager aus den Bereichen Einzelhandel und E-Commerce.

Wie grundlegend der Umbruch ausfällt, verdeutlicht er mit Blick auf die Zukunft: „Die digitale Transformation wird die Branche auch nach 2025 weiter beschäftigen. Womöglich erfordern dann neue Innovationen Qualifikationen, die wir heute noch gar nicht kennen.“ Für Fachkräfte heißt das: Das viel beschworene lebenslange Lernen ist aktueller denn je.

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Michael Vogel

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