Rohstoffgewinnung nach dem Vorbild der Natur

Nachhaltigkeit ist langweilig, findet Prof. Dr. Michael Braungart. Der Verfahrenstechniker und Inhaber des Cradle to Cradle®-Lehrstuhls an der Rotterdam School of Management und Professor an der Universität Lüneburg weiß, wovon er seit über 30 Jahren redet: Produkte zu entwickeln, die nach wie vor zum überwiegenden Teil auf dem Müll landen, und von den Menschen nichts anderes zu erwarten, als weniger davon zu konsumieren, macht die Welt nicht besser. Es ist unsexy, macht schlechte Laune und verschwendet weiterhin Ressourcen, nur eben ein bisschen langsamer. Schlimmer noch: Es schürt Schuldgefühle, Unlust und Angst. Ein schlechtes Klima für Kreativität und Innovation, die wir so dringend brauchen, um unseren Planeten zu retten.
Der Mensch als Nützling?
Michael Braungart will nicht länger nur „weniger schlecht“ sein – er will mehr: Er will mit uns den Überfluss zelebrieren. Er will aus dem Menschen einen Nützling machen und seinen Konsum zu etwas, das die Erde nicht zerstört, sondern Werte schafft, Rohstoffe erzeugt und Biodiversität sogar antreibt. Zusammen mit seinem Partner, dem US-Architekten William McDonough, liefert er uns dafür auch eine Blaupause: Cradle to Cradle®, ein Design-Konzept für Produkte und Herstellverfahren, das nach dem Vorbild der Natur arbeitet. Funktionierende Ökosysteme produzieren im Überfluss, ohne Abfall, ohne Einschränkung. Nichts geht verloren, im Gegenteil: Jedes „Zuviel“ regt die schöpferische Kraft weiter an. Mit jeder Produktion, jeder Nutzung, jedem „Verbrauch“ entsteht Nahrung für kreative Kreisläufe. Je mehr, desto mehr, so heißt die Devise. Das sollen sich Produktdesigner abschauen. Und genau darin steckt der Paradigmenwechsel, die Umkehr unseres bisherigen Nachhaltigkeitsdenkens, das von Verzicht und Schadensbegrenzung geprägt ist.
Die Herausforderung ist also, Neuheiten so zu entwickeln, dass sie zu 100 Prozent aus umweltförderlichen, unkritischen Substanzen bestehen, die als „Nährstoffe“ vollständig und ohne großen Aufwand in natürliche Kreisläufe zurückfinden oder unendlich in geschlossenen technischen Kreisläufen zirkulieren („von der Wiege zur Wiege“).
Statt Produkte zu konzipieren, die beim Verschleiß Gifte freisetzen oder nur auf einer Müllhalde enden können („von der Wiege zum Grab“), wo Wertstoffe durch Verbrennung verloren gehen, darf am Nutzungsende ausschließlich zweierlei herauskommen: gefahrlos Kompostierbares sowie reine Kunststoffe und Metalle. Selbstredend dürfen auch in der Herstellung keine unverwertbaren oder giftigen Substanzen entstehen. Die Fertigung ist idealerweise energieneutral oder -positiv, wasser- und sozialverträglich.
„Zelebrieren wir den Überfluss“

Interview mit Professor Michael Braungart, Verfahrenstechniker und einer der beiden Väter von Cradle to Cradle®.
Professor Braungart, Sie engagieren sich fast Ihr ganzes Leben für Ihre Vision der Nährstoffwirtschaft. Sie finden Nachhaltigkeit, wie wir sie denken, langweilig, Müll zu produzieren, dumm und unser romantisches Schuldgefühl gegenüber "Mutter Natur" das größte Hindernis für überfällige Innovation.
„Öko-Effektivität“ will Materialqualität erhalten und mehren
Cradle to Cradle® fordert „Öko-Effektivität“ statt „Öko-Effizienz“ – und leistet damit weit mehr als Urban Mining: Die Stadtschürfer verstehen die Abfallhalden der Metropolen als riesige Rohstoffminen und versuchen, hier Wertstoffe wiederzugewinnen. Doch selbst das effizienteste Recycling ist oft mit hohem Ressourceneinsatz, der Freisetzung von Gefahrstoffen und einem traurigen Qualitätsverlust der Materialien (Downcycling) verbunden. Sind technische und biologische Rohstoffe im Produkt gar untrennbar vermischt, entstehen „Monsterhybride“ oder „Frankenstein-Produkte“, die sich schlicht nicht recyceln lassen. Ihnen den Kampf anzusagen, wurde für Braungart und seine Mitstreiter zur Mission. Die öko-effektiven Designer suchen die Lösungen nicht mehr auf der Halde, sondern in der Produktentwicklung – und trachten danach, in jedem Materialnutzungszyklus sogar einen Zuwachs an Qualität zu ermöglichen (Upcycling).
Wie das geht, zeigt beispielsweise eine Schweizer Textilfabrik. Sie stellt heute Möbelbezugsstoffe her, die man gefahrlos „essen“ könnte. Dabei setzt sie Chemikalien ein, die ihr „Abwasser“ sauberer machen als das, was in die Fabrik hineinfließt. Das bisher größte Containerschiff der Welt wird heute mit einer Datenbank ausgeliefert, in der die Materialqualität jedes einzelnen Bauteils erfasst ist. So können an seinem Lebensende bis zu 95 Prozent des 165.000 Tonnen schweren Stahlfrachters sortenrein wiedergewonnen und neu verbaut werden. Der deutsche Reinigungsmittelhersteller Werner & Mertz konzipiert ganze Produktserien so, dass ihre Bestandteile zu 100 Prozent als bereichernde „Nährstoffe“ in biologischen oder technischen Kreisläufen perpetuieren. „Als Öko-Pionier ist unser Ziel, mit allen wesentlichen Elementen unseres Produktes – Rezeptur, Verpackung, Produktionsumstände – mindestens eine Entwicklungsgeneration vor der bisherigen ökologischen Benchmark zu liegen und so die Marktentwicklung für öko-effektive Lösungen zu forcieren“, sagt Reinhard Schneider, geschäftsführender Gesellschafter des Familienunternehmens.
Ob kompostierbare Windeleinlage, Schaum- und Klebstoff aus Pilzmyzel oder Hochleistungspolymer aus Luft und Treibhausgasen: Eines eint die Innovativen und Hersteller – sie wollen erfolgreich sein, ja wachsen, und das auf lange Zeit. Dazu setzen sie auf Rohstoffe, die sich nicht aufzehren, und Produkte, die ihre Kunden bedenkenlos nutzen können. Mit positivem Effekt für die Umwelt. „Die Logik war sehr imposant. Wenn wir Materialien nicht verbrauchen, sondern anderen Generationen ebenfalls zum Gebrauchen hinterlassen, haben wir keine Rohstoffprobleme mehr“, sagt Wolfgang Grupp, TRIGEMA Inh. W. Grupp e. K., Hersteller des weltweit ersten zu 100 Prozent kompostierbaren T-Shirts. „Ich dachte: Wenn das geht, will ich der Erste sein, der diese Innovation anbietet. So verstehe ich mich als Unternehmer und davon leben wir in einem Hochlohnland.“ Zwei Jahre dauerte die marktreife Entwicklung – seitdem wachsen die Umsätze stetig. Professor Braungart engagiert sich fast sein ganzes Leben für seine Vision der Nährstoffwirtschaft. Er findet Nachhaltigkeit, wie wir sie denken, langweilig, Müll zu produzieren, dumm und unser romantisches Schuldgefühl gegenüber „Mutter Natur“ das größte Hindernis für überfällige Innovation.
„Man braucht nicht nur eine Vision, sondern auch Durchhaltevermögen“
Interview mit Wolfgang Grupp, TRIGEMA Inh. W. Grupp e.K.

Herr Grupp, wie sind Sie dazu gekommen, das weltweit erste zu 100 Prozent kompostierbare T-Shirt auf den Markt zu bringen?
Vor etwa zehn Jahren kam Professor Braungart mit seinem Cradle to Cradle®-Konzept auf uns zu. Die Logik war sehr imposant. Wenn wir Materialien nicht verbrauchen, sondern anderen Generationen zum ebenfalls Gebrauchen hinterlassen, haben wir keine Rohstoffprobleme mehr. Ich dachte: Wenn das wirklich geht – wenn die Bio-Baumwolle und die Chemikalien, die das Institut uns für die Verarbeitung vorschlägt, tatsächlich komplett und gefahrlos verrotten – dann will ich der erste sein, der diese Innovation anbietet. Davon leben wir in einem Hochlohnland und so verstehe ich mich auch als Unternehmer. Am Standort Deutschland geht es nicht um Masse, sondern um Innovation.
Der Kompostierungsprozess
Die kompostierbaren T-Shirts von Trigema wurden bereits in der Produktentwicklung so gestaltet, dass sie am Ende ihrer Lebenszeit wieder als Nährstoff in den biologischen Kreislauf eingespeist werden können. Dazu müssen sie aus natürlichen Fasern bestehen, biologisch abbaubar und frei von toxischen Stoffen sein.