Selbstmanagement & Wellbeing

Zivilcourage: Mutig für andere eintreten

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Mutig die Stimme zu erheben oder einzugreifen, wenn eine andere Person durch Worte und Taten in ihrer Würde verletzt wird, ist eine grundlegende Voraussetzung für das respektvolle Zusammenleben in einer freien, demokratischen Gesellschaft. Zivilcourage zu zeigen, fällt zwar nicht immer leicht, doch man kann es lernen.

Carsten Röder spielt mit seiner Tochter im Garten gerade Federball, als rund 60 Meter weiter ein fremder Wagen stoppt. Der Segelflugbauer lebt mit seiner Familie in Poppenhausen – einem idyllischen Örtchen in der Rhön, wo die Kinder auf der Straße spielen. Auch die fünfjährige Nachbarstochter sitzt an diesem Tag mit ihren Bauklötzen am Straßenrand, als das Auto mit dem auswärtigen Kennzeichen neben ihr hält. Als Röder sieht, wie der Fahrer aussteigt und das kleine Mädchen auf den Rücksitz klettert, sprintet er los: „Ich habe nur gedacht, wenn der losfährt, ist sie weg“, sagt er später über die Aktion. „Was soll das?“, herrscht er den Mann an und holt die Kleine aus dem Auto. Der Unbekannte fährt davon. Röder meldet das Kennzeichen der Polizei, die den mutmaßlichen Kidnapper noch am selben Tag findet. Über gefährliche oder peinliche Konsequenzen hat Carsten Röder bei diesem Vorfall im letzten Jahr nicht lange nachgedacht, beispielsweise, dass der Mann auch hätte bewaffnet sein können oder der Entführungsverdacht vollkommen haltlos: „Auch wenn die Polizei das Verfahren mittlerweile eingestellt hat, würde ich jederzeit wieder so handeln“, sagt der Familienvater. Für sein beherztes Eingreifen ist er 2016 mit dem XY-Preis für Zivilcourage ausgezeichnet worden. Der 2002 von der ZDF-Fahndungssendung „Aktenzeichen XY ungelöst“ ins Leben gerufene Preis steht unter der Schirmherrschaft des Bundesinnenministeriums und wird jährlich an mutige Menschen verliehen, die sich in beispielhafter Weise gegen Gewalt und für den Schutz ihrer Mitbürger eingesetzt haben und so als Vorbild dienen.

Helfer statt Helden gefragt

Zivilcourage heißt nicht, den Helden zu spielen. Oft genügen bereits gefahrlose Aktionen, um wir­kungsvoll eine Straftat zu verhindern und Opfer vor Über­griffen zu schützen. Im Rahmen der „Aktion-tu-was – eine Initiative für mehr Zivil­courage“ empfiehlt die Polizei:

  • Ich helfe, ohne mich selbst in Gefahr zu bringen.
  • Ich fordere andere aktiv und direkt zur Mithilfe auf.
  • Ich beobachte genau und präge mir Tätermerkmale ein.
  • Ich organisiere Hilfe unter Notruf 110.
  • Ich kümmere mich um Opfer.
  • Ich stelle mich als Zeuge zur Verfügung.
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Vorbilder gefragt

Denn im entscheidenden Moment Zivilcourage zu zeigen, fällt oft überraschend schwer. Das belegen nicht nur zahlreiche Medien- und Polizeiberichte, in denen von teilnahmslosen Augen- und Ohrenzeugen zu lesen ist, sondern auch psychologische Studien: „Die meisten Menschen haben zwar eine positive Einstellung zu Zivilcourage, doch wenn es darauf ankommt, schauen viele trotzdem weg und bleiben untätig“, sagt Prof. Dr. Veronika Brandstätter-Morawietz von der Universität Zürich. Seit vielen Jahren erforscht die deutsche Motivationspsychologin die Ursachen dieser gesellschaftlich nachteiligen Einstellungs-Verhaltenskluft und entwickelt entsprechende Trainingsmethoden zu ihrer Überbrückung.

Zivilcourage kann man trainieren

„Der Vorwurf, Leute, die nicht eingreifen, seien feige oder gleichgültig, trifft nur selten zu“, so Brandstätter-Morawietz. Die meisten Menschen wüssten schlichtweg nicht, wie sie sich verhalten sollten. „Viele Situationen, die Zivilcourage erfordern, sind keineswegs eindeutig“, erklärt sie. So falle es oft schwer, zu erkennen, ob man sich in einen Streit oder eine Rangelei überhaupt einmischen sollte. Unwillkürlich orientierten sich die meisten Menschen dann an den Umstehenden – mit dem Ergebnis, dass alle ratlos schauen und keiner handelt. In der Psychologie wird dieses Phänomen auch als plurale Ignoranz bezeichnet. Dazu komme erschwerend noch die sogenannte Verantwortungsdiffusion in der Gruppe: „Wenn mehrere Menschen einen kritischen Vorfall mitbekommen, neigt jeder dazu, die Verantwortung bei den anderen zu sehen“, erläutert die Psychologin.

„Zivilcourage betrachte ich als eine Facette der Demokratiekompetenz“

Prof. Dr. Veronika Brandstätter-Morawietz, Lehrstuhlinhaberin im Fachbereich Allgemeine Psychologie - Motivationspsychologie an der Universität Zürich
Prof. Dr. Veronika Brandstätter-Morawietz, Lehrstuhlinhaberin im Fachbereich Allgemeine Psychologie - Motivationspsychologie an der Universität Zürich

Interview mit Prof. Dr. Veronika Brandstätter-Morawietz, Lehrstuhlinhaberin im Fachbereich Allgemeine Psychologie – Motivationspsychologie an der Universität Zürich.

Frau Professor Brandstätter-Morawietz, was ist überhaupt Zivilcourage?

Zivilcourage ist eine besondere Form des prosozialen Verhaltens. Kennzeichnend ist das mutige Eintreten für Schwächere, es gibt also stets einen Täter und ein Opfer, das in seiner Menschenwürde verletzt wird. Zivilcourage zeige ich öffentlich und nehme dafür notfalls auch negative Konsequenzen in Kauf.

Zivilcourage zu zeigen ist also riskant?

Ja, allerdings nicht unbedingt physisch. Oft sind es ja gar keine körperlichen, sondern verbale Übergriffe, die Zivilcourage erfordern. Trotzdem greifen viele Menschen nicht ein. Die meisten von uns fürchten allein schon das Risiko, sich zu exponieren. Dazu kommt die Angst, etwas falsch zu machen, die Situation für das Opfer womöglich noch zu verschlimmern und sich selbst zu blamieren.

Als Motivationspsychologin erforschen Sie diese Zusammenhänge seit vielen Jahren. Woher stammt Ihr Interesse?

Ich interessiere mich vor allem für die auffällige Kluft zwischen Einstellung und Verhalten: Die meisten Menschen finden Zivilcourage zwar positiv und wichtig, aber nur wenige handeln im Ernstfall danach. An meinem Lehrstuhl gehen wir der Frage nach, wie man diese Kluft überwinden kann. Ich finde es schön, damit zeigen zu können, dass die Psychologie sehr hilfreiche Ansätze hat, um gesellschaftlich relevante Fragen anzugehen. 

Kann man Zivilcourage denn trainieren?

Auf jeden Fall. Um Zivilcourage zu zeigen, benötigen Sie Wissen und Routine. Wissen darüber, wie Sie in verschiedenen Situationen adäquat reagieren können. Und Routine, um dieses Wissen in einer stressigen Situation dann auch umzusetzen. In meiner Arbeitsgruppe haben wir dazu verschiedene Trainingsmodule entwickelt.

Wie sieht so ein Training aus?

Es gibt einen Theorieteil, der nützliches Wissen vermittelt und zum Beispiel über die Einstellungs-Verhaltens-Kluft und ihre psychologischen Hintergründe aufklärt. Anschließend stärken wir die Handlungskompetenz durch Rollenspiele und Simulationen. Unter die Haut geht vielen zum Beispiel die Bus-Übung. Mit Stühlen werden dazu die Sitzreihen in einem Bus nachgebildet, dann erleben die „Fahrgäste“ wie zwei Rollenspieler aus dem Kreis der Teilnehmer und Teilnehmerinnen nach und nach immer heftiger in Streit geraten. So kann jeder Kursteilnehmer quasi live seine Wahrnehmung überprüfen: Was bekomme ich überhaupt mit? Wann greife ich ein? Prügeleien und gewalttätige Übergriffe sind natürlich schwer als Rollenspiel nachzustellen. Hier arbeiten wir stattdessen mit mentalen Simulationen, bei denen Sie sehr detailliert und lebendig eine Situation geschildert bekommen, sodass Sie Gedanken und Gefühle im Geiste gut durchspielen können.

Warum ist Zivilcourage so wichtig?

Zivilcourage betrachte ich als eine Facette der Demokratiekompetenz. Nur wenn jeder einzelne von uns Verantwortung übernimmt, einen toleranten, respektvollen, an den Grundrechten und der Menschenwürde orientierten Umgang miteinander sicherzustellen, ist das hohe Gut Demokratie gesichert. Es lohnt, sich dafür einzusetzen.

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Zivilcourage im Internet

Medienwirksamen, zum Teil auch tragischen Rettungsaktionen zum Trotz erfordert Zivilcourage längst nicht immer riskanten Körpereinsatz. Ganz im Gegenteil: Die Polizei rät sogar ausdrücklich davon ab, im Alleingang den Helden zu spielen (siehe Kasten). Sehr viel sinnvoller sei es oft, sich dem Opfer unterstützend zuzuwenden (einer bedrängten Person die Hand zu reichen und sie aus der Situation zu begleiten: „Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir!“) und unbeteiligte Umstehende zu aktivieren (nach dem Motto: „Sie in der blauen Jacke, hier braucht jemand unsere Hilfe, verständigen Sie die Polizei!“). Das gilt erst recht für das Internet, wo Attacken zwar stets nur verbal, dafür aber mit enormer öffentlicher Reichweite stattfinden. „Täter können sich jederzeit, anonym und mit einfachen Mitteln an ein großes Publikum wenden, und die Opfer können sich den Attacken kaum entziehen“, sagt Renate Pepper, Direktorin der Landeszentrale für Medien und Kommunikation Rheinland-Pfalz (LMK) und Koordinatorin von Klicksafe, einer Initiative, die sich mit Beratungsangeboten und Aufklärungsangeboten für ein sicheres Internet einsetzt. Besonders junge Menschen sind von Cybermobbing betroffen: Rund jeder dritte Jugendliche wurde schon Zeuge, wie jemand in seinem Bekanntenkreis im Netz „fertiggemacht“ wurde, so ein Ergebnis der JIM-Studie 2016 zum Medien- und Informationsverhalten Jugendlicher.

Wie es sich anfühlt, auf allen Kanälen beschimpft und beleidigt zu werden, weiß Dunja Hayali aus eigener Erfahrung. Die deutsche ZDF-Moderatorin mit irakischen Wurzeln ist dafür bekannt, mutig Stellung zu Themen wie Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit zu beziehen. Sie zählt zu den prominenten Unterstützern von „Gesicht zeigen e.V.“, einem Verein, der für mehr Zivilcourage wirbt und Menschen ermutigen möchte, sich gegen Ungerechtigkeiten und Diskriminierung zu wehren. Per Post, E-Mail oder auf ihrer Facebook-Seite erfährt die engagierte Journalistin nicht nur Zuspruch, sondern immer wieder auch üble Schmähungen. Ein Phänomen, dass vor allem im Netz um sich greift, viele Nutzer einschüchtert und bei Bloggern und Online-Journalisten zunehmend zur Selbstzensur führt. Nicht so bei Dunja Hayali, die Online-Trolle und Hassmail-Schreiber notfalls mit ihren eigenen Waffen schlägt. Auf ihrer Facebook-Seite veröffentlichte sie 2016 einen anonymen Hassbrief – inklusive ihrer ironischen Antwort auf die niveaulosen, vor Rechtschreibfehlern strotzenden Beleidigungen. Am Ende gab der Schreiber klein bei und entschuldigte sich sogar persönlich bei Hayali. Jeder dürfe sie und ihre Arbeit kritisieren, so Hayali. Meinungsfreiheit ist für sie ein hohes und schützenswertes Gut, aber: „Beleidigung, Bedrohung und Hass hat nichts mehr mit Meinungsfreiheit zu tun.“

Kirstin von Elm

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