Was hat die „Rente mit 63“ mit dem aktuellen Fachkräftemangel zu tun?

Der Fachkräftemangel drohe zu einer „Transformationsbremse“ zu werden. Darin sind sich die Expertinnen und Experten einig. Die Anzahl der Erwerbstätigen wird in den nächsten Jahren stark zurückgehen, denn dann werden die Babyboomer in den Ruhestand gehen. Laut dem Statistischen Bundesamt werden in den nächsten 15 Jahren ca. 12,9 Millionen Erwerbstätige das Renteneintrittsalter überschritten haben. Das ist rund ein Viertel der heutigen Erwerbstätigen. Die geburtenschwachen Nachfolgerjahrgänge können diese entstehende Lücke nicht schließen. Dies macht deutlich, dass aus einem spezifischen Fachkräftemangel zusätzlich ein allgemeiner Arbeitskräftemangel geworden ist.
Nichts an diesem Befund sollte uns überraschen: Die demografischen Daten liegen seit Jahren auf dem Tisch. Dass knapp 13 Millionen Babyboomer die Arbeitswelt in den kommenden Jahren verlassen und ungleich weniger Jüngere nachkommen, ist hinlänglich bekannt und hätte längst zu Handlungen führen müssen. Eine Vermutung liegt nahe: Verantwortliche aus Politik und Wirtschaft haben wohl gehofft, dass die Automatisierung und die Digitalisierung (kurz- und mittelfristig) die menschliche Arbeit reduzieren und das Problem damit wunderbar auflösen würden. Fehlanzeige!
„Rente mit 63“ verschärft demographischen Wandel
Berechnungen des Bundesamtes für Bevölkerungsforschung zeigen, dass derzeit viele Menschen bereits mit 63 oder 64 Jahren aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Dies liegt damit deutlich vor der Regelaltersgrenze, die trotz ständig wachsender Lebenszeiterwartungen aktuell bei 67 Jahren liegt. Laut der Statistik ging 2021 jeder oder jede Dritte über die Möglichkeit des frühzeitigen Rentenbezugs für besonders langjährig Versicherte ohne Abschläge in Rente. Bundeskanzler Scholz griff diesen Trend Anfang des Jahres 2023 auf und appellierte, dass mehr Menschen erst mit 67 Jahren in Rente gehen sollten. Laut Herrn Scholz gilt es, den Anteil derer zu steigern, die wirklich bis zum Renteneintrittsalter arbeiten können und wollen.

Damit wird den aufmerksamen Leserinnen und Lesern deutlich, dass wir in unserem Land quasi mit der „Rente mit 63“ – politischer Codename „Abschlagsfrei in die Rente“ – unser demografisches Problem hausgemacht verschärft haben. Allein der massenhafte Renteneintritt der Babyboomer führt zwangsläufig zu einem angespannten Arbeitsmarkt (und den spüren wir ja bereits jetzt, obwohl sich die Welle erst jetzt aufbaut). Man könnte meinen, dass die Politik sich gefragt hat, wie man diesen Trend noch verschärfen kann. Richtig! Mit der „Rente mit 63“ hat man nochmal den Turbo zugeschaltet. Denn als ob wir noch nicht genug mit der demografischen Entwicklung zu tun hätten, setzen wir noch Anreize dafür, frühzeitiger aus dem Erwerbsleben auszuscheiden. Sie denken jetzt sicherlich, dass das die Politik doch vor Augen und in weiser Voraussicht vorgesorgt hatte, oder nicht?
Ich gebe Ihnen als Beobachter im politischen Berlin eine deutliche Antwort: Leider nein!
Was nun? Was tun?! Unsere neue Hays Workforce-Management-Studie zeigt, dass viele Arbeitgebende und Auftraggebende der altbewährten Logik folgen: Wenn wir in unserer Organisation nicht über genügend Fachkräfte verfügen, dann finden wir sie… irgendwo auf dem Arbeitsmarkt. Ein Widerspruch in sich: Der Arbeitsmarkt soll lösen, was er selbst hervorbringt. Dass er leergefegt ist, scheint immer noch – menschlich verständlich – ausgeblendet zu werden. Das erinnert ein bisschen an die Vogel-Strauß-Politik.
Dringend notwendige politische Maßnahmen
Unsere aktuelle Regierung, bestehend aus der SPD, den Grünen und der FDP, hat die Weichen für die Zukunft gestellt und es gibt auch sehr gute Ansätze wie z. B. die im Oktober 2022 beschlossene Fachkräftestrategie der Bundesregierung. Diese beinhaltet auch ein modernes Einwanderungsrecht, welches im Laufe des Jahres 2023 beschlossen werden soll.
Nur hätten wir diese politischen Initiativen bereits vor Jahren gebraucht, um den Exodus auf dem Arbeitsmarkt abzuwenden. In vielen Bereichen unserer Wirtschaft gibt es jetzt bereits akute Probleme, für die Lösungen gefunden werden müssen, die schneller umsetzbar sind. Daher ist es wichtig, dass sich die Politik um Lösungen bemüht, die auch kurzfristig für Entspannung am Arbeitsmarkt sorgen.

Wir brauchen quasi die „Notfallmedizin“ für jetzt und eine langfristige Strategie, wie wir nicht nochmal in eine solche Situation geraten. Die pessimistischen Leserinnen und Leser könnten jetzt zurecht sagen: Hoffen wir mal, dass wir aus dieser Situation überhaupt wieder rauskommen. Das ist nicht gesetzt. Dafür muss die Notfallmedizin erstmal erfolgreich verlaufen. Ich hingegen bin Optimist und sage: Lasst uns beide Ansätze parallel verfolgen. Vorsorge ist, wie immer, besser als Nachsorge.
Die Bedeutung von Diversität & Flexibilität in der Arbeitswelt
Und natürlich kümmern sich Organisationen um Alternativen, wenn der Arbeitsmarkt nicht mehr sprudelt. Dies spiegelt auch die oben genannte Hays Workforce-Management-Studie wider: unter der großen Überschrift Diversity. So spricht sich die Mehrheit der Befragten für mehr Frauen in Vollzeitpositionen oder zumindest in vollzeitnaher Beschäftigung aus. Das trifft den Zeitgeist genauso wie ein weiterer Punkt: 44 Prozent der Befragten wollen ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer länger im Unternehmen halten oder gar einstellen. Vorbei die Zeiten von „Vor-Corona“ und Corona, in der sich gerade große Konzerne von vielen Angestellten über Mitte 50 „getrennt“ haben. Hierzu hatte ich bereits in der Vergangenheit einen Beitrag unter dem Titel „Zurück auf Los: Ältere Beschäftigte im Spiel halten“ verfasst.
Und auch Menschen mit Migrationshintergrund rücken noch mehr ins Zentrum. Immerhin 37 Prozent sehen darin eine Chance, den Fachkräftemangel zu mildern. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich Deutschland zum Einwanderungsland deklariert. In einer Migrationsstudie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2021 gaben hingegen nur 17 Prozent der Befragten aus Unternehmen an, dass ausländische Fachkräfte rekrutiert werden sollten. Wenigstens tut sich derzeit im Arbeitsministerium etwas in Sachen gesetzlicher Regelungen. Denn die heutige Version erinnert vielmehr an eine „Einwanderungsverhinderungsverordnung“. An allen drei Fronten – Frauen, Ältere und ausländische Arbeitskräfte – ist in jedem Fall noch viel an konkreten Handlungen auf mehreren Ebenen zu erledigen, sollten sie in näherer Zukunft einen positiven Beitrag zum Fachkräftemangel leisten.
Wir müssen jetzt mit Hochdruck daran arbeiten, eine insgesamt offene und flexible Arbeitsmarktkultur zu etablieren, die Lust auf Arbeiten in Deutschland macht und Flexibilität, Individualität, Kreativität und Innovation zulässt und fördert. Jedem klugen Kopf, der bereit ist, ein Teil der deutschen Arbeitsgesellschaft zu werden – sei es in einem Angestelltenverhältnis, als Freelancer und Freelancerin, Gründer und Gründerin, Unternehmer und Unternehmerin oder alles auf einmal – sollten wir die Möglichkeit geben, ein Teil davon zu werden und zu bleiben. Ohne eine gesellschaftliche Offenheit und Willkommenskultur wird es schwierig eine gewisse Schwerkraft und Bindung zu erzeugen. Wie in den Unternehmen geht es auf nationaler Ebene sowohl um das Gewinnen als auch Binden von Arbeitskräftepotentialen.
Als weiteren essenziellen Baustein sehe ich, dass flexible Arbeitsformen wie z. B. die Arbeitnehmerüberlassung und Selbständigkeit dabei helfen können, einen effektiven Beitrag zur Abmilderung des akuten Fachkräftemangels zu leisten. Gerade in Zeiten knapper Ressourcen kann sie einen Beitrag zur effektiven Allokation und „Sharing“ von Know-how und Arbeitskraft innerhalb der gesamten deutschen Wirtschaft leisten. An vielen Stellen müssen konsequent bürokratische Hürden abgebaut werden. Nur im Zusammenspiel aller Faktoren lässt sich die Mammutaufgabe stemmen, um unseren wirtschaftlichen Erfolg langfristig zu sichern.