Die meisten Menschen wollen nicht lernen

Lernen ist dabei ein Mittel zum Zweck. Eine Maßnahme – aber kein eigenes Ziel
Akzeptieren wir diese erste Grundannahme für einen Moment, dann ergeben sich weitreichende Konsequenzen für das Design unserer Lernlandschaften vor allem im betrieblichen Kontext. In diesem muss meines Erachtens das Ziel ein Lern-Ökosystem sein, das digital unterstützt wird und auf einer eindeutig formulierten Theorie des Lernens beruht – also ein digitales Lernökosystem.
Nicht erst die Diskussionen zum Klimawandel haben uns den Begriff des Ökosystems nahegebracht, er ist immer schon Teil unserer Vorstellung gewesen: eine Lebensgemeinschaft aus unterschiedlichen Organismen und ihrer Umwelt, die man auch als Lebensraum, Habitat oder Biotop bezeichnet. Hier herrschen unzählige Interdependenzen: Steigt z. B. die Erdtemperatur, kann dies das Wanderungs- und Paarungsverhalten einzelner Lebewesen beeinflussen, die wiederum als Nahrung für andere dienen und letztlich für die Existenz ganzer Biotope bedeutsam sind. Bei aller Vielfalt: Die Existenz eines Ökosystems hängt wesentlich vom Beziehungsgefüge der beteiligten Lebewesen untereinander ab.
Kein Mensch lernt auf die exakt gleiche Art und Weise und keine davon ist weniger „wert“ oder „schlechter“ als die andere – so wie in der Natur eine Vielfalt an Lebensformen und -arten vorkommt. Unsere Vorstellung der Welt basiert aber (nicht nur im Kontext Lernen) ganz wesentlich auf der Vorstellung des Durchschnitts: von der Sitzhöhe von Stühlen und Tischen bis zur Navigation von Lernmanagementsystemen und der Konzeption von Lerncurricula – immer liegt die Annahme eines Durchschnittsmenschen zugrunde. Das Problem ist nur: Niemand entspricht dem Durchschnitt. Sie nicht. Ich nicht. Wir liegen in Bezug auf Körpergröße, Intellekt und Lernverhalten vielleicht darüber oder darunter, aber der Durchschnitt als mathematische Größe beschreibt keine Realität. Todd Rose hat das in seinem Vortrag „The End of Average“ eindrucksvoll dargelegt.

Wenn wir den Durchschnitt als Maßstab nehmen, entgeht uns die Möglichkeit, die vielfältigen Entwicklungsbedürfnisse unserer Zielgruppen ernst zu nehmen und somit effektiv zu adressieren. „Schulung“ ist nie die Lösung für ein Problem – wenn Schulung bedeutet, was es eben oft bedeutet: ein endloser PowerPoint-basierter Lehrvortrag mit anschließender unvermeidlicher Gruppendiskussion und einem obligatorischen „Handout“, das schneller im Müll landet als es gedruckt werden kann. Hier ist nicht mal der Durchschnitt angesprochen und doch verfällt man beinahe zwanghaft immer wieder in alte Muster, von denen man weiß, dass sie nicht funktionieren: Menschen zusammenzutreiben und mit Content zu überschütten. Der menschliche Geist ist eben kein leeres Gefäß, das es zu füllen gilt, wie Plutarch so eloquent schrieb.
Ein Lernökosystem bietet, wie es der Name andeutet, eine Vielfalt an Lernangeboten, -methoden und -konzepten, die in Summe ein Lernhabitat ergeben, in dem sich Menschen mit unterschiedlichen Lernverhalten angesprochen fühlen können. Das setzt heute den Einsatz digitaler Technik voraus.
Bei Hays haben wir diese fünf Elemente eines (digitalen) Lernökosystems identifiziert:
- Ein kohärentes Verständnis von Auftrag und Nutzen betrieblichen Lernens: Kompetenzaufbau, nicht Wissensvermittlung. Wie eine Organisation über Lernen denkt, kann man schon am physischen Design der Lernräume erkennen: Sind es auf die Lehrperson zentrierte, strenge, schmuck- und trostlose Lernzellen, auch „Klassenzimmer“ genannt, oder offene Learning-Experience-Landschaften, die man sowohl digital als auch analog nutzen kann? Wir glauben, dass Menschen am besten lernen, indem sie etwas tun. Darauf fußt unser internes Mentoringsystem, also die Ausbildung von Mentoren und Mentorinnen, die neue Kolleginnen und Kollegen beim Onboarding und ihrer fachlichen (und persönlichen) Entwicklung begleiten. Ein zentraler Aspekt ist hier, die Mitarbeitenden an konkreten Beispielen anzuleiten und eng zu begleiten, letztlich aber auch zu befähigen, sich selbst Informationen zu verschaffen, zu bewerten und zu verwenden. Wissensvermittlung kann nicht mehr im Fokus stehen, dafür veraltet das Wissen zu schnell; Konnektivismus nennt George Siemens diese Lerntheorie für das digitale Zeitalter.
- Dezentralisierung: Führungskräfte = Anführerinnen und Anführer, Manager und Managerinnen, Ausbildende und Erziehende. Führen bedeutet Ausbilden. Das Team ist als kleinste disziplinarische geführte Einheit bei uns zugleich der wichtigste Rahmen, neues Wissen und neue Kompetenzen auszuprobieren und anzuwenden. Führungskräfte auf unterster Ebene müssen Zeit für die Ausbildung ihrer Mitarbeitenden erhalten und die Befähigung dazu: Eine Train-the-Trainer-Zertifizierung ist essenzieller Teil unseres Weiterbildungsangebots für Führungskräfte.
- Ein leistungsstarkes Lernmanagementsystem: als Wissenssammlung, als Plattform für Best-Practice-Austausche, soziale Lernsettings, Nachschlageort und Trackinginstrument. Hier findet Content in den unterschiedlichsten Formaten Platz: Videos, Factsheets, Links, Kurzanleitungen, Kurse, externe Bildungsangebote, Umfragen u.v.m. Auch unter dem Aspekt von Learning Analytics, also der systematischen Erhebung und Auswertung des Lernverhaltens der Mitarbeitenden, ist ein solches System sehr hilfreich, denn es liefert wertvolle Antworten auf Fragen wie: „Wann und was lernen meine Mitarbeitenden?“ oder „Welche Inhalte kommen an, welche nicht?“ usw.
- Externe (Lern-)Apps: „Wir müssen nicht alles selbst machen“, lautet ein wichtiger Grundsatz meines Bereichs. Deshalb haben wir bei Hays die App Blinkist eingeführt als Teil unserer Strategie, Mitarbeitenden mehr Autonomie zu ermöglichen, aber auch niedrigschwelligen Zugang zu neuen Themen zu schaffen und nicht nur berufliche, sondern explizit auch private Interessen und Neugier zu fördern. Apps zur Nutzung auf mobilen Endgeräten erreichen die Menschen dort, wo sie sich gerne und ungezwungen aufhalten: auf ihrem Bildschirm, daheim, unterwegs.
- User Generated Content & Lernberatung: 2022 hat Hays den eLearning Award in der Kategorie “User Generated Content” gewonnen. Die Idee: Mitarbeitende kreieren eine eigene, ins LMS integrierte Lernplattform, um Wissen zu sammeln und zu teilen. Die Fähigkeiten zur Produktion von Lernmaterial haben wir als Learning Center vermittelt, aber die Arbeit selbst wurde von den Fachabteilungen durchgeführt. Eine Weiterentwicklungsmöglichkeit für alle Beteiligten und ein wesentlicher Bestandteil der Lernstrategie: „People support what they help create“. Wir sehen uns als Beraterinnen und Berater, als Enabler des Lernens in der Organisation, um Autonomie, Selbststeuerung und Kollaboration zu fördern.
Eine zweite wesentliche Grundannahme ist, dass Neugier vielleicht der wichtigste Treiber für Innovation und persönliches Wachstum (und letztlich Wettbewerbsfähigkeit) ist und PE-Abteilungen somit generell gut daran tun, die konkreten Bedürfnisse ihrer Zielgruppen in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zu stellen. Menschen „Lernende“ zu nennen ist ein bisschen so, wie sie „Atmende“ zu nennen – korrekt und gleichzeitig ziemlich albern. Menschen lernen immer und überall, sie brauchen dafür keine schmuck- und trostlosen Lernzellen, „Klassenzimmer“ genannt, keine Curricula oder Lern-Apps. Sie brauchen ein lernförderliches Umfeld, Raum, Zeit und eine Technologie, die den unterschiedlichsten Lerntypen Zugang und Teilhabe an Wissensaufbau und Kompetenzentwicklung ermöglicht. Ganz ohne den persönlich-menschlichen Kontakt geht es aber auch nicht: Mit welchem Web-Based Training haben Sie gelernt, eine Freundschaft zu pflegen? Auf welchem SharePoint stand, was eine erfolgreiche Ehe ausmacht? Welcher Studiengang lehrt, gute Eltern zu sein? „Content is everywhere, teachers are everywhere, networks are the new classroom”, schrieb der verstorbene Prof. Richard Elmore. Wenn wir diese Entgrenzung des Lernens als Chance begreifen, können wir mit unseren Mitarbeitenden gemeinsam unter Zuhilfenahme moderner Technologie die Zukunft betrieblichen Lernens gestalten. Als digitales, vielfältiges Ökosystem. Mit analogen Lebewesen. Und ganz ohne Durchschnitt.