Selbstmanagement & Wellbeing

Learning Ex­peri­ence De­sign - Wie ler­nen Men­schen?

Zunächst eine ernst gemeinte Frage: Was glauben Sie, liebe Leserin und lieber Leser, wie Menschen lernen? Behalten Sie die Frage doch einmal im Hinterkopf, während Sie diesen Blogpost lesen – ich komme am Ende darauf zurück.

Und tun Sie mir einen Gefallen: Vergessen Sie bitte, was Sie über das Lernen gelesen haben und horchen Sie stattdessen in sich hinein. Vergessen Sie vor allem bitte auch die Vergessenskurve, den Psychologen Ebbinghaus, pädagogische Psychologieartikel oder den letzten Essay im Harvard Business Review zu dem Thema. Denken Sie einfach an Ihre eigenen Erfahrungen: Wann, wie und unter welchen Umständen haben Sie am besten gelernt?

Zwei weitere Fragen:

1. Wenn Sie sich im New Yorker U-Bahn-Netz zurechtfinden wollen, was brauchen Sie dann? Einen U-Bahn-Plan? Oder einen E-Learning-Kurs zum Thema „U-Bahn fahren in New York“?

2. Wenn Sie Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für das Thema Diversity sensibilisieren wollen, wie gehen Sie vor? Lassen Sie sie in einer Simulation Ausgrenzung, Diskriminierung und Ablehnung erfahren? Laden Sie Menschen ein, die von ihren negativen Erfahrungen berichten? Oder verpflichten Sie sie zu einem Onlinekurs zu diesem Thema, am besten mit elektronischer Teilnahmebestätigung, so dass eine Nichtteilnahme sanktioniert werden kann?

Welcher dieser Ansätze wird Ihrer Meinung nach zum gewünschten Lerneffekten führen? Welcher nicht – und warum?

Zur Geschichte des Lernens

Lernen ist ein natürlicher Prozess, man kann nicht nicht lernen. Lernen ist nicht dasselbe wie Bildung. Unser Bildungssystem ist preußischen Ursprungs und stammt im Wesentlichen aus dem späten 18. Jahrhundert. Allein die auf ein starkes hierarchisches Gefälle zwischen Lernenden und Lehrenden ausgerichtete Raumgestaltung von Bildungseinrichtungen lässt dies erkennen: Alle schauen nach vorne, dort steht die Autorität, das geballte Wissen. Kinder werden in Wissenszellen – sogenannte Klassenräume – gezwungen. Denn jeder weiß: Wissen findet nur in physischen Räumen und dort nur von 07:00 bis 13:00 Uhr statt.

Es ist ein System, das auf die Heranbildung von Menschen abzielt, die gehorchen. Menschen, die repetitive Tätigkeiten ausführen können, sozial erwünschtes Verhalten zeigen und in Form von guten Noten dafür belohnt werden, Auswendiggelerntes wiederzugeben. Menschen, die gute Fabrikarbeiter abgeben und – ganz wichtig – das System nicht in Frage stellen. Der Fächerkanon: teils historisch bedingt, teils vollkommen willkürlich, aber keinesfalls an den Interessen der Lernenden ausgerichtet. Hegels Generation war es, die einen formalen Schulabschluss zur Vorbedingung eines Studiums machte: das Abitur. Spätestens seitdem ist (nicht nur) in Deutschland die Logik verankert, dass allein formale Zertifikate Wissen und Erfahrung nachweisen und jede Kompetenzerweiterung zwingend mit einer Form der Prüfung einhergehen muss. Wir können nur, was wir in einer Bildungseinrichtung gelernt haben. Leonardo da Vinci hat seinen Bachelorabschluss ja schließlich auch in…ja was eigentlich gemacht?

Corporate Learning

Dieser plakativen und gewollt polemischen, aber vielleicht doch nicht völlig abwegigen, Beschreibung stehen ernsthafte Herausforderungen im Corporate-Learning-Umfeld gegenüber, die jedenfalls erkennbar von den weit verbreiteten Lehrsätzen nicht adressiert und somit nicht gelöst werden können. Unsere Welt verändert sich immer schneller, das Wissen von heute ist morgen schon veraltet. Es kann in diesem Umfeld nicht darum gehen, möglichst viel Wissen zu „vermitteln“, sondern darum, vernetztes und kritisches Denken zu fördern, Kreativität, Kollaboration und Mitgefühl, Verantwortungsbewusstsein und Selbstständigkeit und vor allem: die Fähigkeit, sich Wissen und Informationen kontinuierlich und schnell anzueignen.

Was Maschinen besser machen können, werden sie besser machen. Wir befinden uns technologisch gesehen, wie Ray Kurzweil es in seinem berühmten Essay The Law of Accelerating Returns auf den Punkt gebracht hat, auf der zweiten Hälfte des indischen Schachbretts. Exponentielles technologisches Wachstum hat bereits spürbare Auswirkungen auf unser tägliches Leben, dem freilich eine analoge Hardware gegenübersteht, die, seit zehntausenden von Jahren unverändert geblieben ist: unser Gehirn. Erkennbar muss es daher für Verantwortliche im Bereich Learning & Development darum gehen, die Kompetenzen ihrer Mitarbeitenden besser als bisher üblich zu entwickeln und zugleich den menschlichen Gegebenheiten Rechnung zu tragen. Das kann aber nur gelingen, wenn ihre tatsächlichen Bedürfnisse erkannt werden, die sich grob in zwei Kategorien einteilen lassen:

Entweder sind Menschen bereits an einem Thema interessiert und wollen mehr darüber erfahren oder besser darin werden. Dann reicht in der Regel eine hilfreiche Ressource: ein U-Bahn-Plan der Stadt New York, zum Beispiel.

Oder aber sie müssen für ein Thema begeistert und davon überzeugt werden, müssen dessen Bedeutung erst erkennen. Dann sind Erfahrungen zentral, die Betroffenheit schaffen und Erkenntnis fördern.

Menschen brauchen also Ressourcen oder sie brauchen Erfahrungen. Emotionale Bedeutung ist für erfolgreiches Lernen in jedem Fall zentral, also zu erkennen: dieses Thema hier ist wichtig und relevant für mich, es interessiert bzw. ich erkenne, dass es mich angeht.

Learning Experience Design

Learning Experience Design zielt auf die Entwicklung solcher Erfahrungen ab. Aus dem Produktentwicklungsumfeld und dem „Design Thinking“-Ansatz bekannt, spielt die „User Experience“ von Kunden eine zentrale Rolle bei der Akzeptanz und dem wirtschaftlichen Erfolg eines Produkts oder einer Dienstleistung, wird aber überraschend selten auf den Lernkontext übertragen.

Diese sechs Schritte haben sich nach unserer eigenen Erfahrung bei Hays in den letzten 18 Monaten als außerordentlich zielführend bei der Entwicklung neuer Lern- und Entwicklungsangebote erwiesen:

1. Definition: Anstatt wie bisher Lernziele zu definieren, stellen Sie die Frage: Wobei wollen wir Menschen konkret unterstützen? Was soll also das (messbare!) Resultat sein? Was soll danach anders sein als vorher?

2. Exploration: Näheren Sie sich dann in einem iterativen, analytischen Vorgehen (mit Hilfe von Fragebögen und qualitativen Interviews) der Frage an, wie Ihre Zielgruppe normalerweise mit Herausforderungen umgeht: Wie lösen Menschen eigentlich ihre Probleme? Fragen sie andere? Googlen sie? Was braucht Ihre Zielgruppe? Eine Ressource? Einen Kurs? Eine Erfahrung?

3. Design: Identifizieren Sie die Ressourcen, die Sie Ihrer Zielgruppe zur Verfügung stellen können, um ein Problem rasch zu lösen und bestimmen Sie, welche Erfahrungen Sie ermöglichen müssen, um neue Kompetenzen zu entwickeln oder Erkenntnisse zu fördern. Das können Simulationen, Experteninterviews, Rollenspiele oder „Challenges“ sein – gemeinsam oder allein zu lösende, konkrete Herausforderungen, die unterschiedliche Kompetenzen ansprechen.

4. Entwicklung: Ähnlich wie im Desing-Thinking sollten Sie so schnell wie möglich ein Minimum Viable Product (MVP) entwickeln und pilotieren – es muss nicht immer perfekt sein, haben Sie Mut zur Lücke! Done is better than perfect! Wichtig ist die Beteiligung Ihrer Zielgruppe an jedem Schritt: Finden Sie z. B. Freiwillige für die ersten Pilottrainings, holen Sie deren Feedback ein. Lassen Sie Ihre Zielgruppe am Entstehungsprozess teilhaben.

5. Rollout: Zugänglichkeit ist eine der zentralen Herausforderungen für L&D. Die wenigsten Lernmanagementsysteme sind mobil zugänglich, aber oft gibt es eben nichts anderes im Unternehmen. Stellen Sie sicher, dass Ihr „Lernprodukt“ zugänglich und vor allem bekannt ist – Marketing wird im PE-Umfeld unterschätzt.

6. Iteration: Kaum ein Produkt „lebt“ ewig, das ist meist auch gut so und sollte auch im Lernkontext so sein. Stellen Sie sich dem Feedback Ihrer Zielgruppe, überarbeiten Sie Ihr MVP und seien Sie bereit, über immer neue iterative Schleifen zu arbeiten, bis Sie entwickelt haben, was Ihre „User“, Ihre Lernenden brauchen. Seien Sie auch bereit von einer Idee abzulassen, die erkennbar keinen Mehrwert für Ihre Zielgruppe liefert, auch wenn Sie sie selbst super finden. Der Köder muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler.

Ich erinnere mich noch an meine Schulzeit: an die Freundschaften, die erste Liebe. Aber auch an die Angst vor Prüfungen, Lehrkräften und dem seltsamen Geruch in Klassenzimmern, eine Mischung aus Kreide und Muff. Vom Schulischen ist mir wenig in Erinnerung geblieben – und was hängengeblieben ist, war für mich eben mit Bedeutung verknüpft – es ging mich etwas an und interessierte mich.

Ähnlich, aber doch anders verlief meine Militärzeit. Noch heute huste ich innerlich beim Gedanken an die „Dichtigkeitsprüfung“ der ABC-Schutzmaske in einer mit CS-Gas gefüllten Kammer. Ich erinnere mich an die endlosen Märsche, die Kälte im Winter auf den Übungsplätzen in Sennelager und in den Bergen. An die Sonnenaufgänge in Kabul und die Hitze dort im Sommer unter dem Helm und der schweren Schutzweste. An die Kameraden. Noch heute beherrsche ich übrigens das militärische Handwerkszeug, wie ich bei Reserve-Übungen erfreut feststellten durfte – da ist viel hängen geblieben. Vielleicht weil das Militär es schon immer verstanden hat, Erfahrungen zu generieren, die ein Leben lang im Gedächtnis bleiben.

"Make people care"

Wie also lernen Menschen? Haben Sie eine Antwort gefunden?

Von Hermann Ebbinghaus stammt die (vermeintliche) Erkenntnis, dass Menschen innerhalb einer Woche einen Großteil des Gelernten vergessen haben, die sogenannte Vergessenskurve. Komisch – die Wärme der Hand meines Vaters kann ich heute noch spüren, über 20 Jahre nach seinem Tod. Und das NATO-Alphabet kann ich auch noch aufsagen, ich fand das immer schon cool. Was, wenn die Denker von Platon über Descartes bis heute unrecht hatten und wir doch nicht vernunftbegabte, sondern zutiefst emotionale und irrationale Wesen sind, die nicht Informationen „speichern“, sondern sich an ihre emotionalen Reaktionen auf ein Erlebnis erinnern? Was würde das für unser Lern- und Bildungssystem bedeuten?

Ich glaube, man lernt am besten, was einen interessiert, wofür man sich begeistert oder wofür man einen klaren Nutzen erkennt. „Make people care!“ könnte daher das Motto für L&D-Verantwortliche lauten oder auch „Make learning relevant again!“ Zudem lernen wir auch nach Jahrtausenden immer noch am besten durch Geschichten, Beobachtung, Nachmachen und Ausprobieren. Durch Erleben und Begreifen wollen.

Vergessen Sie die Vergessenskurve! Schaffen Sie Lernerlebnisse, die haften bleiben. Wenn ich die Menschen meiner Zielgruppe mit ihren Interessen und Bedürfnissen in den Mittelpunkt meiner Lerndesignideen stelle und nicht meine eigenen, begegne ich ihnen erst wirklich auf Augenhöhe. Und bleibe im Gedächtnis. Der Learning-Experience-Design-Ansatz kann dabei helfen.

Vertiefen Sie Ihr Wissen zu diesem spannenden Thema mit der Lektüre des ausgezeichneten Buches „How People Learn“ von Nick Shackleton-Jones, dass die Inspiration zu diesem Ansatz geliefert hat und aus den auch zentralen Ideen für diesen Blogpost stammen.

Friedrich Menz

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