FKI Q4/22 IT-Branche: Weiterbildung und Quereinstieg sind die Grundpfeiler

Die Nachfrage nach IT-Fachkräften befindet sich seit dem zweiten Quartal 2022 im ständigen Sinkflug – und das, obwohl rund 137.000 offene Stellen vorhanden sind. Wie ist das zu erklären?
Die Nachfrage ist nach wie vor da, sie zeigt sich auch anhand der steigenden Zahlen bei der Suche nach SAP-Entwicklerinnen und -Entwicklern, IT-Security-Fachkräften und IT-Administratorinnen und -Administratoren. Allerdings stehen sämtliche Branchen vor der Herausforderung, geeignetes Fachpersonal zu finden. Deshalb müssen auch Fachkräfte aus dem Ausland rekrutiert werden. Leider ist Deutschland zurzeit kein besonders attraktives Einwanderungsland. Damit sich das ändert, fordern wir digitale Schnittstellen zwischen den deutschen Botschaften, Konsulaten und Inlandsbehörden sowie beschleunigte Verwaltungsverfahren. Vor allem muss die Bundesregierung auf die Forderung von Deutschkenntnissen für die Visa-Erteilung und auf die umständlichen und bürokratischen Anerkennungsverfahren formaler Bildungsabschlüsse verzichten.
Besetzungszyklen für festangestellte IT-Fachkräfte werden immer länger und damit teurer. Wäre eine externe Workforce, bestehend aus hochqualifizierten Freelancerinnen und Freelancern eine denkbare Lösung?
Plattformen zur Vermittlung von Selbständigen mit oft hoch spezialisierten und stark nachgefragten Kenntnissen und Fähigkeiten spielen eine immer wichtigere Rolle. Hier geht es nicht um Clickworker und prekäre Bezahlung. Über Plattformen können zum Beispiel ältere Spezialistinnen und Spezialisten auch nach Renteneintritt mit einem reduzierten Zeitkontingent beruflich aktiv bleiben. Hier ist die Politik gefordert, rechtliche Unsicherheiten zu beseitigen und vor allem die häufige Unterstellung einer scheinselbständigen Beschäftigung ad acta zu legen. Wir sprechen hier über hochbezahlte Spezialistinnen und Spezialisten mit oft vierstelligen Tagessätzen, die in den allermeisten Fällen ganz bewusst diese Form der Arbeit gewählt haben und kein festes Beschäftigungsverhältnis eingehen wollen.

Viele Personalverantwortliche und Fachbereichsleitungen schauen aktuell in die USA, um fähige IT-Fachkräfte für den deutschen Markt anzuwerben. Für wie erfolgversprechend halten Sie diese Initiativen?
Wir sehen gerade bei vielen großen US-Tech-Unternehmen, dass sie nach einem jahrelangen und insbesondere in der Corona-Zeit teilweise massiven Stellenzuwachs Korrekturen vornehmen. Davon sind kaum IT-Spezialistinnen und -Spezialisten betroffen, in aller Regel geht es um andere Unternehmensbereiche. Die Anwerbung von IT-Fachkräften aus den USA nach Deutschland ist ein schwieriges und nur in absoluten Einzelfällen erfolgversprechendes Unterfangen. Ja, zurzeit sind 137.000 IT-Stellen nicht besetzt. Aber auch in den USA haben die Unternehmen einen hohen Bedarf an IT-Know-how, weshalb die Betroffenen innerhalb des eigenen Landes meist sehr gute berufliche Perspektiven haben. Außerdem konkurriert Deutschland bei der Suche nach IT-Fachkräften mit zahlreichen Ländern, die geographisch oder sprachlich die näherliegende Alternative sind. Und nicht zuletzt fallen in Deutschland im weltweiten Vergleich hohe Steuern an, weshalb ein Wechsel aus den USA zu uns für die meisten auch finanziell wenig verlockend ist.
Wie sollte sich vor dem Hintergrund der großen Fachkräftenot – nicht nur im IT-Umfeld – die Gewinnung von Mitarbeitenden aus dem Ausland generell gestalten? Welche Überlegungen sollten Unternehmen anstellen?
Unternehmen können Plattformen wie „Make it in Germany“ nutzen, die direkte Jobvermittlungen mit Fachkräften aus dem Ausland anbieten. Außerdem sollten sie positive Einwanderungsprozesse öffentlich begleiten, um sichtbarer zu werden und Unterstützung anbieten, z. B. durch einen Relocation-Service und Sprachintegration. Grundsätzlich ist aber auch der Staat in der Pflicht, Deutschland als Einwanderungsland attraktiver zu machen.
Für wie realistisch halten Sie Optionen, bestehende Beschäftigte für neue Technologien anzulernen (z. B. künstliche Intelligenz oder Data Management), zumal auch dieses Vorhaben sehr viel Zeit in Anspruch nehmen würden?
Weiterbildung und Quereinstieg sind die Grundpfeiler, um inländische Potenziale vollständig auszuschöpfen. Durch ein konsequentes und zum Teil auch gefördertes Weiterbildungsangebot innerhalb der Unternehmen können Beschäftigte gehalten und versteckte Talente entdeckt werden. Gerade im Hinblick auf die digitale Transformation sollte die Weiterbildung oder der Quereinstieg in die IT beziehungsweise digitale Berufsfelder immer mitgedacht werden.
Dr. Bernhard Rohleder
Dr. Bernhard Rohleder hat den Bitkom e.V. Ende 1999 mit aus der Taufe gehoben und ist seitdem Hauptgeschäftsführer des Verbands.
Seine berufliche Laufbahn begann Rohleder mit Stationen bei der ZF Friedrichshafen GmbH in Saarbrücken, dem Presseverlag Ploetz in Berlin und dem brandenburgischen Wirtschaftsministerium in Potsdam. 1997 wurde er parallel zum Generalsekretär des europäischen Spitzenverbands der IT-Branche, Eurobit, mit Sitz in Brüssel und Frankfurt berufen. Rohleder ist Aufsichtsratsmitglied der Berliner Verkehrsbetriebe AöR (BVG) sowie Mitglied des Rats der Agora Verkehrswende, des Beirats des Mobility Data Space, des Expertenbeirats „Klimaschutz in der Mobilität“ beim Bundesministerium für Digitales und Verkehr und der Plattform „Digitalisierung der Wirtschaft“ des Digitalgipfels der Bundesregierung.