Der Fachkräftemangel – vergessen, aber mitnichten erledigt

Er war ohnehin nie weg und nimmt gerade erst richtig Fahrt auf. Denn seit vergangenem Jahr verabschieden sich die ersten Babyboomer in den Ruhe- oder Vorruhestand. Coronabedingt oft still und leise. Etwa eine Million Berufstätige sind es wohl allein in der aktuellen Dekade, Jahr für Jahr wohlgemerkt.
Das ist ein dickes Brett. Bei insgesamt 44,5 Millionen Erwerbstätigen (Stand: April 2021 laut Statista) dankt arithmetisch betrachtet bald fast jede(r) Vierte ab. Aber nicht nur das: Der Arbeitswelt gehen damit auch Kompetenzen und Erfahrungen verloren, die sich gar nicht erst in Zahlen ausdrücken lassen. Manchmal scheint es mir, als ob wir dies zwar tief im Inneren wüssten, es aber noch nicht realisiert hätten. Wie oft höre ich im politischen Betrieb den Satz: Wir haben keinen Mangel an Wissen und Erkenntnissen; es fehlt schlichtweg der politische und gesellschaftliche Mut. Und ich möchte aus der Management-Perspektive noch ergänzen: Es fehlt an „Execution“ bzw. „Action“ – in Politik und vielen Unternehmen gleichermaßen.
Gründe für den Fachkräftemangel
Natürlich ist der Fachkräftemangel nicht nur mit dem beruflichen Abgang der Babyboomer verknüpft. Das wäre zu kurz gegriffen. Denn es geht nicht um die Zahl an Erwerbstätigen, sondern um deren Qualität. Um die Frage, ob die in unserer Volkswirtschaft arbeitenden Menschen für die aktuellen und künftigen Aufgabenstellungen über die passenden Kompetenzen und Qualifikationen verfügen. Hier gibt es an etlichen Stellen, vor allem bei den neuen digitalen Themen, eine deutliche Qualifikationslücke.

Dafür zeichnet das hohe Tempo der globalisierten Wirtschaft verantwortlich, das durch die zunehmende Digitalisierung befeuert wird. Um die Transformation zu bewerkstelligen, benötigen wir in vielen Fachgebieten jede Menge Fachkräfte, die ihre Kompetenzen im Takt mit den neuen Herausforderungen weiterentwickeln (Stichwort „Skill Shift“). Gelingen kann dies mithilfe schnell und flexibel agierender Aus- und Weiterbildungssysteme.
Und ja, es wäre im Hinblick auf den Fachkräftemangel prima, wenn mehr junge Menschen andere Fächer studierten, an denen in Unternehmen künftig hoher Bedarf besteht: Noch präferieren junge Menschen Studiengänge, für die die beruflichen Aussichten künftig nicht mehr so gut sein werden. Aktuelle Zahlen zeigen, dass nach wie vor Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften beliebter sind als Naturwissenschaften: Über eine Million Menschen studieren derzeit die erstgenannten Fächer. Mathematik und Naturwissenschaften (Stichwort „MINT“) liegen dagegen mit über 300 000 Studierenden fast gleichauf mit geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Immerhin: 800 000 Studierende sind derzeit in Ingenieurwissenschaften immatrikuliert.
Wege aus dem Fachkräftemangel
Über Lösungen, wie wir dem Fachkräftemangel begegnen, reden wir seit Langem, nachdem uns Expertinnen und Experten auf dem Gebiet der Demografie bereits seit Jahren in Szenarien vorrechnen, was uns blüht. Getan hat sich jedoch zu wenig. Obwohl es Antworten gibt. So setzt Clemens Fuest, Präsident des ifo Instituts, auf die marktwirtschaftliche Karte. Der Preis bzw. in diesem Fall das Gehalt regele die Fachkräfteknappheit: Stiegen die Löhne, so bewegten sich die Menschen in die passende Richtung.
In meinen Augen ergibt sein Vorschlag Sinn – das Thema wird in HR-Kreisen unter dem Begriff „New Pay“ bereits heiß diskutiert – aber es greift in meinem Verständnis nicht breit genug. Wir sind an dem Punkt angelangt, an dem wir gesetzgeberische Rahmenbedingungen benötigen und nicht mehr auf das freie Spiel des Marktes setzen können.
Wir brauchen echte, nachhaltige Ansätze. Nach wie vor steht eine gezielte Einwanderung qualifizierter Fachkräfte an. Das ist direkt mit einem stärkeren Engagement im Bereich der internationalen Rekrutierung verbunden. Natürlich sind neben der Politik auch die Unternehmen selbst stark gefordert, in die Offensive zu gehen. Zudem sollten wir vorbehaltlos überlegen, wie wir älteren Menschen neue Wege für ein längeres Arbeiten eröffnen – den Babyboomer-Effekt in der dramatischen Größenordnung hatte ich bereits angesprochen. Hier gibt es sowohl für Unternehmen als auch für die betroffenen älteren Erwerbstätigen noch zu viele rechtliche Hürden und Unklarheiten, die wir endlich lösen müssen. Es muss attraktiv sein, jenseits des offiziellen Renteneintrittsalters weiterzuarbeiten. Ob in Festanstellung oder in Selbständigkeit. Die heute schon fehlgeleitete Debatte um Schutzbedürftigkeit im Bereich Selbständigkeit spielt in diesem Kontext hoffentlich keine Rolle mehr.

Flexibiliserung der Arbeitszeitmodelle
Mein dritter Punkt lautet, die Arbeitszeitmodelle noch weiter zu flexibilisieren mit dem Ziel, vor allem Menschen mit familiären Verpflichtungen mehr Spielräume in ihrem Arbeitsleben zu ermöglichen. Das würde uns auch helfen, die Frauenerwerbsquote weiter zu steigern, die über die letzten Jahre bereits eine gute Entwicklung genommen hat (aktuell liegt sie bei 71 %; das Ziel sollten 80 % sein). Und zuletzt sollten wir Wege finden, dem Fachkräftemangel mit intelligenter Digitalisierung und einer konsequenten Weiterbildungsstrategie zu begegnen. Die gesamte Bevölkerung unseres Landes muss verstehen, dass lebenslanges Lernen und ständige Weiterentwicklung zum Arbeitsleben dazugehören. Deutschland muss eine Weiterbildungsnation werden. Digitalisierung ist auch hier ein Schlüssel, den wir endlich ins Schloss bringen müssen!
Ausblick
Zu diesen vier Feldern möchte ich Ihnen in den kommenden Monaten in mehreren Beiträgen Lösungen skizzieren: Was müssen wir in Unternehmen tun und was ist Aufgabe der Gesetzgebung, um einen geeigneten Rahmen zu schaffen, der uns auf Kurs bringt? Lassen Sie mir gerne Ihre eigenen Vorschläge und Anregungen zukommen; ich freue mich, diese aufzugreifen. Denn beim Fachkräftemangel helfen uns nur konzertierte Wege, keine Alleingänge.