Alles neu, oder was?


"Innovation braucht widerstrebende Ansichten und Denkweisen"
Univ.-Prof. Dr. Marion Weissenberger-Eibl, Leiterin des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung ISI und Inhaberin des Lehrstuhls Innovations- und Technologiemanagement am KIT, beschäftigt sich mit der Entstehung und Auswirkung von Innovationen. Weissenberger-Eibl, eine der 100 einflussreichsten Frauen der deutschen Wirtschaft, empfiehlt Unternehmen, gerade in Krisenzeiten ihre Innovationsbestrebungen nicht zu vernachlässigen.
Frau Univ.-Prof. Dr. Weissenberger-Eibl, was ist Innovation?
Innovation ist faszinierend. Den Anfang machen Ideen, die wir entwickeln und bewerten. So kommt das Neue in die Welt. Von einer Innovation sprechen wir allerdings erst, wenn sich die Neuerung als Produkt, Technologie, Dienstleistung oder Prozess am Markt etabliert hat. Bis zu diesem Zeitpunkt handelt es sich um eine Invention.
Wie kommt das Neue in die Welt?
Grundsätzlich durch unternehmensinterne Forschung und Entwicklung. Wir beobachten aber auch, dass Unternehmen externe Akteure in den Innovationsprozess einbinden. Durch den interdisziplinären Austausch lassen sich Bedarfe besser ermitteln sowie Wissen und Erfahrungen aus verschiedenen Bereichen verknüpfen. Daraus kann etwas entstehen, das große Chancen hat, akzeptiert zu werden.
Was hemmt Innovation? Und was befördert sie?
Innovation braucht Mut, weil sie nach einer offenen Unternehmenskultur verlangt, die Neues zulässt und Fehler akzeptiert – wenn wir daraus lernen. Doch unternehmerisches Risiko muss sich auch lohnen. Der Staat kann dafür die erforderlichen Rahmenbedingungen schaffen.
An welchen Innovationen kommt ein Unternehmen, das wettbewerbsfähig bleiben will, nicht vorbei?
Gerade in Krisenzeiten empfehle ich Unternehmen, ihre Innovationsbestrebungen nicht zu vernachlässigen. Denn Innovationen sichern die eigene Zukunft. Die Digitalisierung beispielsweise bietet vielfältige Möglichkeiten, um neue Anwendungen hervorzubringen.
Welche Rolle spielen Denk- und Innovationsfabriken?
Innovation braucht widerstrebende Ansichten und Denkweisen. Um uns mit Menschen aus unterschiedlichen Branchen und Disziplinen auszutauschen, brauchen wir adäquate Räume, wie zum Beispiel Denkfabriken, Innovation Hubs oder Think Tanks. Dort können wir unser bekanntes Terrain verlassen und innovative Lösungen und Antworten in ganz verschiedenen Fachbereichen finden.

"Es muss Spielraum geben"
Prof. Dr.-Ing. Matthias Kreimeyer leitet den Lehrstuhl für Produktentwicklung und Konstruktionstechnik am Institut für Konstruktionstechnik und Technisches Design der Universität Stuttgart. Er plädiert dafür, auch abgefahrenen Ideen Raum zu geben.
Herr Prof. Kreimeyer, woher kommen Anregungen für erfolgreiche Innovationen?
Im Prinzip von überall her. Innovationen entstehen dann, wenn man sich über den Prozess der Produktwerdung hinaus gleichermaßen vom Markt und der Technik inspirieren lässt. Start-ups beispielsweise betreiben „agile“ Innovation. Sie liefern nicht gleich das finale Produkt, sondern testen oft den Markt und nähern sich dem Endergebnis langsam. Viele Hersteller setzen auf Integration der Kundinnen und Kunden und versuchen, Technologie-Push und Markt-Pull in Einklang zu bringen.
Worauf kommt es bei innovativen Produktentwicklungen an?
Es ist wichtig, dass Innovation Teil der Unternehmenskultur ist. Dabei sollten Mitarbeitende nicht nur ermutigt werden, Ideen zu bringen, auch das Scheitern muss erlaubt sein. Darüber hinaus sollte der Ideenentwicklung genügend Zeit eingeräumt werden. In vielen Firmen können Mitarbeitende einen halben oder ganzen Tag pro Woche blocken, um sich mit Ideen auseinanderzusetzen. Soll die Idee umgesetzt werden, braucht es einen strukturierten Prozess. Denn die schönste Idee hilft nichts, wenn die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger sie nicht zu sehen bekommen, sie nicht budgetiert wird und nicht in die Produktentwicklung überführt werden kann.
Wie werden Innovationsprozesse initiiert und umgesetzt?
In Konzernen muss es Spielraum in den Standardstrukturen geben. Auch wenn die Struktur eine graduelle, schrittweise Bewegung zum Ziel vorgibt, sollte ausreichend Raum auch für eine abgefahrene Idee sein. Bei der graduellen Innovation, wie der Weiterentwicklung von einfachen Assistenzsystemen im Pkw, greift die klassische Produktentwicklung, bei radikalen Ideen bieten sich oft explorative Methoden an. Ein Beispiel sind die Elektroscooter, die plötzlich aufgetaucht sind. Man kann nicht alles systematisch als Produkt entwickeln, sondern muss es ausprobieren.
Wo sehen Sie das größte Potenzial für Innovationen?
Aktuell erleben wir eher Innovationen in Geschäftsmodellen, oft in Form neuer „Market Places“, wie etwa das Vermitteln von Fahrten bei Flixbus. Allerdings ist die Welt technologisch noch lange nicht am Ende. Wir werden massive Innovationen rund um die Themen Wasserstoff und Energie erleben. Viele altgediente Technologiefirmen versuchen aktuell, sich neu zu erfinden, müssen sich aber gegen neue Player behaupten. Ein Beispiel: das Kopf-an-Kopf-Rennen in der E-Mobilität.

"Wir müssen ein Gespür für ethische Risiken entwickeln"
Dr. Johan Rochel ist Mitbegründer von ethix, einem Lab für Innovationsethik in Zürich. Der Philosoph unterrichtet digitale Ethik an der École Polytechnique Fédérale de Lausanne und ist überzeugt: Ethische Fragen müssen schon zu Beginn des Innovationsprozesses im Unternehmen diskutiert werden.
Herr Dr. Rochel, wo liegt die ethische Herausforderung bei Innovationen?
Es gibt drei Fragenkomplexe. Der erste betrifft die Ethik in der Technologie. Gerade bei der Digitalisierung tauchen Fragen rund um Daten, KI, Design oder Verantwortung auf. Den zweiten nenne ich soziale Gerechtigkeit, er betrifft den Einfluss der Innovation auf die Gesellschaft. Hier geht es meist darum, wie wir leben, was wir arbeiten oder wer zu welchen Gütern Zugang hat. Der dritte Komplex berührt die Ebene unserer grundlegenden Narrative: Welche Geschichte erzählen wir uns als Individuen, Gesellschaft und Firma über die Welt? Ein Beispiel für ein solches Narrativ: Stehen wir Menschen mit einer Innovation im Wettbewerb? Ist der Roboter eine Konkurrenz für uns oder wie das Fahrrad ein Mittel zum Zweck? Spannend ist, wann im Innovationsprozess Ethik zum Thema wird. Oft kommt sie erst ganz am Ende zum Zug, etwa im Kontext der Kontrolle durch das Compliance-Team. Das bringt nicht viel. Ethische Fragen müssen zu Beginn gestellt werden, weil dann die wichtigen Entscheidungen fallen. Danach sollte die Ethik den gesamten Innovationsprozess kritisch begleiten.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ethik spielt schon jetzt für viele Unternehmen eine wichtige Rolle. Größere Unternehmen haben Stellen für ethische Fragen eingerichtet, die meistens für Streitigkeiten rund um „Good Governance“ zuständig sind. Klassische Themen sind Korruption, interne Interessenkonflikte oder Diskussionen um Boni. Digitale Ethik wirft neue Fragen auf. In unserer Beratungstätigkeit sehen wir vermehrt Datenethik-Boards, die mit Spezialistinnen und Spezialisten der Produktentwicklung, des Marketings, der Compliance und Mitgliedern des Managements besetzt sind.
Welche ethischen Fragen stehen im Vordergrund?
Unternehmen beschäftigen sich vor allem mit der Ethik in der Technologie. Bei einer digitalen Innovation lauten die Fragen: Welche Daten brauchen wir, welche produzieren wir, welche Datenflüsse müssen wir organisieren und wie schützen wir moralische Güter, wie zum Beispiel die Privatsphäre oder Selbstbestimmung? Zeichnet eine App beispielsweise die Schritte auf, die ein Mensch täglich macht, wird es diesbezüglich rasch heikel. Hier stellt sich die Frage nach den rechtlichen Verpflichtungen. Sind diese erfüllt, bedeutet dies allerdings nicht, dass die ethischen Fragen beantwortet sind.
Entwicklungsteams stellt sich auch die Designfrage. Der Roboter hat einen bestimmten Körper, eine Stimme, ein Gesicht, sieht eventuell sogar wie ein Mensch aus. Vielleicht versucht man, die Zielgruppe so zu beeinflussen, dass sie glaubt, mit einem Menschen zu reden. Oder nehmen wir an, ein Roboter wie die Plüschrobbe Paro aus Japan kommt in einem Pflegeheim zum Einsatz. Bei einer Person mit Demenz beispielsweise besteht die Gefahr, dass sie glaubt, es handele sich tatsächlich um ein Tier. Diese Designfragen sind auch entscheidend für digitale Hilfsmittel und Schnittstellen, die wir täglich nutzen.
Wer sollte über die Folgen von Innovation nachdenken?
Ethische Fragen betreffen uns alle. Jedes Produkt, jeder Prozess ist Ausdruck bestimmter Werte. Wir müssen ein Gespür für ethische Risiken entwickeln. Nehmen wir das Beispiel eines Konversationsbots oder eines Empfehlungstools. Das Risiko ist groß, dass die Software unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen unterschiedlich behandelt. Was passiert, wenn das Unternehmen sich gleichzeitig öffentlich zur Gleichbehandlung bekennt? Wie schafft es das Unternehmen, widerspruchsfrei zu handeln? Denn gelingt ihm dies nicht, riskiert es seinen Ruf, das Vertrauen der Kundinnen und Kunden oder einen schlechteren Absatz.
Annette Frank
Weiterführende Links
-
Podcast "Zukünfte2Go"
Podcast "Zukünfte2Go" des Lehrstuhls für Innovations- und TechnologieManagement (iTM) am KIT
https://itm.entechnon.kit.edu/Podcast_Zukuenfte2Go.php -
Plüschrobbe Paro
Mehr über die Plüschrobbe Paro lesen Sie hier:
https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/pluesch-tech-fuer-senioren-paro-der-gluecklichmach-roboter-a-443593.html