Menschen & Meinungen

Skill-Based Recruiting gegen den Fachkräftemangel

2023 ist es soweit: jährlich verlassen nun mehr Menschen den Arbeitsmarkt als Berufseinsteigende hinzukommen, bis zu 500.000 Menschen scheiden aus dem Berufsleben aus.

Der demographische Wandel, seit langem bekannt, beginnt seine Wucht auf dem Arbeitsmarkt zu entfalten: wie sehr dies manche Branchen und Funktionen trifft, wird nicht allerorts in gleichem Maße erkannt.

Nach wie vor treffen wir auf Stellenanzeigen wie diese:

„Dein Profil: Du hast ein erfolgreich abgeschlossenes (Fach-) Hochschulstudium als Wirtschaftsingenieurin oder -ingenieur, im Fachbereich Betriebswirtschaftslehre, Wirtschaftsinformatik, Bauingenieurwesen oder einem anderen technischen Bereich.“

Die offensichtliche Wahllosigkeit des Studienschwerpunkts ist schon ein Indiz für die Orientierungslosigkeit, aber klar ist hier: es muss definitiv ein Absolvent oder eine Absolventin sein. Warum?

Aus dem Rest der Anzeige wird das nicht klar und auch die Formulierung selbst stimmt in ihrer Beliebigkeit (Studienfach gerne technisch, aber auch BWL, Hochschultyp – Uni, FH, DH – ist ebenfalls offen) nachdenklich – warum braucht es für diese Stelle überhaupt einen Hochschulabschluss? Geht es da um konkrete Fähigkeiten – oder einfach einen Automatismus?

In den USA haben im Jahr 2017 60% der Unternehmen Menschen abgelehnt, die zwar die für die jeweilige Stelle notwendigen Erfahrungen und Fähigkeiten mitbrachten, aber keinen Hochschulabschluss. Zwei Drittel der befragten Firmen sagten also: wir suchen zwar Leute, aber ohne ein Stück Papier, dessen Wert in Zeiten von Noteninflation und sinkender akademischer Standards höchst zweifelhaft ist wollen wir sie hier nicht.

Gewiss: Anders als in Ländern Kontinentaleuropas gibt es in den USA keine duale Ausbildung, weswegen die Akademikerquote zwar höher ist als in Deutschland, die des tertiären Bildungsbereichs aber vergleichbar – viele der Tätigkeiten, die dort eine Person mit Bachelorabschluss ausübt führt hierzulande jemand mit einer Berufsausnildung bzw. Aufstiegsfortbildung als Fachkauffrau oder Betriebswirt durch. Aber auch bei uns steigt die Studierendenquote seit Jahren (inzwischen auf >50% eines Geburtenjahrgangs) und die Debatte um die Akademisierung bisheriger Ausbildungsberufe wird gerade in Pflege- und Erziehungsberufen nicht ohne Absicht, diese Berufsfelder attraktiver zu gestalten, mit Nachdruck vorangetrieben. Auch hierzulande spielt der Abschluss an sich also noch eine große Rolle.

Vor dem Hintergrund des enormen Fachkräftemangels stellt sich aber eben auch hier die Frage: warum eigentlich?

Zunächst brauchen Unternehmen doch Menschen, die bestimmte Tätigkeiten ausüben können (und wollen), mithin also ganz bestimmte Fähigkeiten haben – manche davon werden sicherlich im Studium vermittelt, aber eben nicht nur dort und es gilt insbesondere nicht der Umkehrschluss, dass Absolvierende nicht-akademischer Ausbildungsgänge diese Fähigkeiten nicht oder nicht im selben Maße hätten.

1/5 der Stellenanzeigen amerikanischer Unternehmen verzichten inzwischen daher schon auf einen akademischen Abschluss als Einstellungskriterium und setzen bei der Suche stattdessen auf ganz bestimmte Fähigkeiten. Die Bundesstaaten Utah, Alaska, Pennsylvania und Maryland haben auf einen akademischen Abschluss als Einstellungsvoraussetzung für den öffentlichen Dienst ganz verzichtet – so groß ist der Bewerbendenmangel und so groß - aus Sicht dieser Staaten - das Potenzial der Workforce, die so zu sagen zwar keinen College-Abschluss in der Tasche, aber ein helles Licht zwischen den Ohren hat.

Unternehmen wie Google, IBM und Walmart setzen auf das sogenannte Skill-based Recruiting: also die gezielte Suche nach Fähigkeiten, nicht nach Absolvierenden oder bestimmten Abschlüssen. Andere Fähigkeitsnachweise wie Zertifikate spielen dabei eine immer größere Rolle: von Bildungsträgern wie edX, Coursera, Udemy und Udacity oder Anbietern wie Google, Microsoft, wo sich lernhungrige günstig, schnell und effektiv neues Wissen und Fähigkeiten aneignen können – zu einem Bruchteil des Preises einer Hochschulausbildung und ohne aus dem Beruf auszusteigen.

Mehr Menschen, mehr Potenzial

Öffnet man den Pool potenzieller Bewerbenden um Menschen ohne Hochschulabschluss, so erschließt sich der Nutzen sofort: betrug die Akademikerquote in Deutschland 2019 nur knapp 20% liegt die Quote derjenigen mit qualifiziertem Berufsabschluss bei gut 50%. Braucht ein Geschäftsführer ein Diplom? Braucht ein Marketing-Manager einen Master? Gilt nicht für viele Tätigkeiten und Funktionen, was für IT-Expertinnen und -Experten gilt auch für jede andere Tätigkeit auch? Dass Fähigkeit und Erfahrung formale Qualifikation sticht? Sicherlich gibt es auch Grenzfälle, aber bedenken Sie: Pilotin, Flugloste und Sprengmeister sind allesamt nicht-akademische Berufe. Finden Sie, dass das keine sonderlich verantwortungsvollen Tätigkeiten sind?

Für das sogenannte „Skill-basierte Recruiting“ sind drei grundsätzliche Fragen in der strategischen Personalplanung von größter Bedeutung:

  1. Skill-Mapping. Ein klares Verständnis davon, welche konkreten Fähigkeiten im Unternehmen mittel- und langfristig gebraucht werden, ist zentraler Bestandteil einer strategischen qualitativen Personalplanung.  „Think tasks, not jobs“: in einer sich immer schneller verändernden, technologisierten Welt sind konkrete Aufgaben relevanter als Berufsbilder: noch vor 15 Jahren waren Jobs wie DevOps Engineer oder SEO-Manager entweder nicht existent oder Nischen. 
    Dazu gehört die entscheidende Frage, welche Fähigkeiten Unternehmen bereits besitzen und welche nicht: kaum ein Unternehmen führt aber ein systematisches Skill-Mapping durch, also eine systematische Erfassung aller unternehmensrelevanten Fähigkeiten der Bestandsmitarbeitenden. (Nicht nur) die jungen Menschen, um die wir mit so viel Nachdruck werben, bringen doch bereits eine Fülle an Fähigkeiten mit! Wer erfasst sie? Wer macht dieses Potenzial so sichtbar, dass es nutzbar wird? Welche Fähigkeiten gibt es im Unternehmen, welche nicht und wo finden sich am ehesten Personen, die diese gesuchten Fähigkeiten haben? Spezielle technologische Anwendungen, aber selbst simple anonymisierte Umfragetools können hier schon ein Anfang sein. Englischkenntnisse? Programmiersprachen? Führungspotenzial? Kulturelle Kompetenz? Die Liste lässt sich fortsetzen. Unternehmen sind gut beraten, das ganze Potenzial ihrer Workforce besser und umfangreicher ausloten.
     
  2. Skill Tests statt Interviews. Wir alle kennen sie: Vorstellungsgespräche, die sich zwischen Verhör und freundlichem Kaffeeplausch bewegen und im Grunde auf das immer gleiche hinauslaufen: einige vage, unstrukturierte Fragen und am Ende entscheidet die Sympathie – und der Gehaltswunsch. Fokussieren sich Unternehmen stattdessen auf klar definierte Kompetenzen und Fähigkeiten – gerne unterstützt durch psychometrische, objektivierbare Auswahlverfahren – und nicht allein auf die „Persönlichkeit“ (die in Tests gar nicht bzw. nur mit hohem Aufwand prüfbar ist), erweitern sie den Pool potenzieller Kandidaten und tragen letztlich zu mehr Vielfalt im Unternehmen bei.
     
  3. Personalentwicklung. PE ist mehr als ein Fortbildungskatalog zu Englisch und Excel – nachweislich steigern Unternehmen, die systematisch in das Up- und Reskilling der Mitarbeitenden investieren die interne Mobilität und die Retention, also die Mitarbeitendenbindung. Lesen Sie mehr über diesen bedeutenden Faktor im Hays HR-Report zum Thema Mitarbeiterbindung hier. Hays unterstützt Unternehmen mit einer Vielzahl von Angeboten dabei, ihre Mitarbeitenden bedarfsgerecht sowie berufsbegleitend und -integrierend weiterzubilden.

Das Recruiting muss insgesamt kreativer und offener werden.

Das bedeutet in diesem Kontext aber nicht nur die Frage der Recruitingkanäle und Methoden, sondern auch die grundsätzlichere Frage nach den Profilen, die gesucht und wirklich gebraucht werden. In einem engeren Markt müssen Unternehmen nicht nur flexibler in Bezug auf Kandidatenwünsche sein, sie müssen insbesondere auch ihre Ansprüche und Haltungen überdenken – was muss jemand können, nicht nur: was hat jemand auf dem Papier gelernt? Und: was können wir Menschen beibringen?

Vergessen Sie dabei nicht: während in Deutschland praktisch jede formale Kompetenzerweiterung mit einem Nachweis irgendeiner Art einherzugehen hat, gibt es für die wichtigsten Kompetenzen und Fähigkeiten keinen Nachweis. Schauen Sie auf den ganzen Menschen, nicht nur auf den (Bildungs-)Hintergrund.

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