Phänomen „Proximity Bias“

Die Pandemie hat viele von uns dazu gezwungen, lange Zeit von zu Hause aus zu arbeiten. Doch nun kehren die Menschen überall auf der Welt in die Büros zurück. Die Umstellung auf ein hybrides Modell, bei dem die Beschäftigten ihre Arbeitszeit zwischen den eigenen vier Wänden und im Büro aufteilen, sehen viele Fachleute als die vielversprechendste Lösung für die Zukunft an.
Tatsächlich bietet dieses neue Modell sowohl für Unternehmen als auch für deren Mitarbeitende zahlreiche Vorteile. Zugleich bringt es jedoch Herausforderungen mit sich, denen sich Führungskräfte stellen müssen. Eine dieser Problematiken – der wir uns vielleicht noch nicht einmal bewusst sind – ist ein Phänomen, das als „Proximity Bias“ bezeichnet wird.
Der „Proximity Bias“ beschreibt eine Urteilsverzerrung, bei der unbewusst das bevorzugt wird, was räumlich näher ist. Das Phänomen, dass wir diejenigen, in deren Nähe wir uns aufhalten, bevorzugt behandeln, ist keineswegs neu: Am Arbeitsplatz zeigt sich dies traditionell daran, wie nah eine Person am Führungsteam sitzt. In der neuen Arbeitswelt bezieht sich der Begriff hingegen eher auf diejenigen Personen, die vom Büro aus arbeiten – in Abgrenzung zu den Kolleginnen und Kollegen, die ihre Aufgaben remote von zu Hause aus erledigen. Beim „Proximity Bias“ handelt es sich also um eine kognitive Verzerrung, eine natürliche menschliche Reaktion, die zur Folge haben kann, dass unser Gehirn die Informationen um uns herum falsch interpretiert.
In diesem Beitrag möchte ich auf die Gefahren hinweisen, die der „Proximity Bias“ in Bezug auf unser Arbeitsleben haben kann. Darüber hinaus werde ich erläutern, wie Führungskräfte damit verbundene Fehler vermeiden können.
Die Gefahren des „Proximity Bias“ am Arbeitsplatz
Zunächst einmal ist festzustellen, dass das hybride Arbeiten für viele von uns ein Dauerzustand bleiben wird. Es ist das, was die Menschen sich wünschen. Führungskräfte müssen das akzeptieren und sicherstellen, dass ihre diesbezüglichen Pläne gut durchdacht sind. In einem kürzlich erschienenen Blog-Beitrag habe ich Empfehlungen ausgesprochen, wie diese Aufgabe gelingen kann.
Im ANZ Salary Guide für das Geschäftsjahr 2021/2022 stellte Hays Folgendes fest: „79 Prozent der Befragten gaben an, dass ihnen flexible Arbeitsbedingungen bei ihrem nächsten Jobwechsel wichtig sind. Außerdem wollen nur 7 Prozent der Fachkräfte, die während der Pandemie remote gearbeitet haben, wieder in Vollzeit ins Büro zurückkehren.“ Im UK & I 2022 Salary Guide wiederum haben wir ermittelt, dass „65 Prozent der Befragten bereit wären, zu einem anderen Unternehmen zu wechseln, wenn ihnen dies mehr Flexibilität verschaffen würde.“
Es ist offensichtlich, dass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie potenzielle Beschäftigte diese Arbeitsweise bevorzugen. Mit dieser Tatsache müssen sich Unternehmen arrangieren.
Geringeres Leistungsniveau
„Proximity Bias“ kann am Arbeitsplatz zahlreiche Gefahren mit sich bringen. Davon auszugehen, dass diese in Ihrem eigenen Unternehmen nicht vorkommen können, ist schlicht unrealistisch. So kann etwa der unbewusste Ausschluss von Beschäftigten bei der Arbeit an in der Unternehmenszentrale entwickelten Großprojekten zu einem geringeren Leistungsniveau oder ungerechtfertigten Beförderungen führen. Dasselbe gilt für die fehlende Möglichkeit, bei der Betreuung eines wichtigen neuen Kundenunternehmens mitzuwirken.
Verunsicherte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
Unzufriedene und unmotivierte Angestellte sind oft der Auslöser für Unmut in der Belegschaft und Vereinsamung am Arbeitsplatz. In einem früheren Blog-Beitrag habe ich bereits über „Das große Kündigen“ gesprochen. Dabei ging es darum, dass offenbar so viele Menschen wie noch nie in ihren aktuellen Jobs unzufrieden sind und Kündigungsabsichten hegen.
Es gibt kaum Anzeichen für eine Verlangsamung dieser Entwicklung. Im Januar meldete das Bureau of Labor Statistics in den Vereinigten Staaten, dass 4,3 Millionen Menschen ihren Job gekündigt haben. Das ist zwar ein leichter Rückgang gegenüber dem Vormonat, doch die Zahl liegt noch immer dicht an dem im November 2021 aufgestellten Rekord. Es ist davon auszugehen, dass die Bedrohung durch Kündigungen nicht einfach verschwinden wird.
Ein Vertrauensverlust kann dazu führen, dass sich Mitarbeitende nicht mehr einbringen – und das kann teuer werden. Studien im Vereinigten Königreich haben ergeben, dass unmotivierte Beschäftigte jährlich zu Produktivitätsverlusten in Höhe von 52 bis 70 Milliarden Pfund beitragen. In einem Artikel des Magazins Forbes heißt es dazu: „Motivierte Teams weisen gegenüber unmotivierten eine geringere Fluktuation, eine um 21 Prozent höhere Rentabilität, eine um 17 Prozent höhere Produktivität und eine um 10 Prozent bessere Kundenzufriedenheit auf.“

Geringere Diversität
Wenn Sie zulassen, dass sich durch „Proximity Bias“ hervorgerufene Verzerrungen in Ihr hybrides Arbeitsmodell einschleichen, kann dies auch der Diversität abträglich sein, die für Unternehmen nachweislich einen Vorteil darstellt. Für manche Menschen stellt das Pendeln zu einem regulären Arbeitsplatz eine große Herausforderung dar. Ein Beispiel: Einem Hays-Bericht zufolge spielen Frauen in der Regel eine größere Rolle bei der Kinderbetreuung, was wiederum eine Vollzeitbeschäftigung in einer traditionellen Büroumgebung erschweren kann.
Hybride Arbeitsformen bedeuten für diese Gruppen daher eine große Erleichterung. Eine Bevorzugung von Beschäftigten vor Ort im Büro kann sich dagegen negativ auf die Diversität Ihrer Belegschaft auswirken.
Zusammenfassend kann Voreingenommenheit durch „Proximity Bias“ also zu Fehlentscheidungen im Hinblick auf Stellenbesetzung und Bindung der Mitarbeitenden führen – und damit auch zu einer schlechteren Unternehmensleistung. Was aber können Führungskräfte tun, um diese Gefahren vorzubeugen?
So lässt sich „Proximity Bias“ im Arbeitsumfeld vermeiden
Zunächst gilt es zu akzeptieren, dass „Proximity Bias“ ein ernsthaftes Problem sein kann. Ebenso wichtig ist es, sich zu vergegenwärtigen, dass sich die Arbeitswelt in den vergangenen zwei Jahren signifikant verändert hat. Der falsche Ansatz wäre es, alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zurück ins Büro zu zwingen.
Hybride Arbeitsmodelle fördern
Gehen Sie stattdessen mit gutem Beispiel voran. Setzen Sie sich womöglich für ein hybrides Arbeitsumfeld ein, kommen aber selbst jeden Tag ins Büro? Dann denken Sie daran, dass Taten mehr sagen als Worte. Die Menschen orientieren sich an der Einstellung ihrer Führungskräfte, um zu erkennen, was wirklich Wertschätzung genießt. Wenn Sie selbst also jeden Tag im Büro arbeiten, dann legen Sie doch gelegentlich mal einen Homeoffice-Tag ein. So zeigen Sie anderen, dass Sie ihnen vertrauen und ihre Arbeitsleistung auch dann schätzen, wenn sie sie außerhalb des Büros erbringen. Wahrscheinlich werden Sie Ihren eigenen Tagesablauf umstellen müssen, um die Zeit im Büro und bei der Remote-Arbeit optimal nutzen zu können.

Meetings ohne Ausgrenzungen
Es ist entscheidend, dass Sie all Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Ihre Überlegungen und in sämtliche Interaktionen einbeziehen. Wenn beispielsweise ein wichtiges Meeting auf der Tagesordnung steht, sollten sich alle Teilnehmenden angesprochen fühlen – unabhängig davon, wo sie sich befinden. Es kann schnell passieren, dass denjenigen, die sich im selben Raum wie Sie aufhalten, mehr Aufmerksamkeit zuteilwird: Für sie ist es wesentlich einfacher, sich zu Wort zu melden als für diejenigen, die über Teams oder Zoom teilnehmen. Das kann schnell dazu führen, dass Remote-Teilnehmende bei Besprechungen zu bloßem „Publikum“ degradiert werden.
Es ist daher sinnvoll, sich dafür einzusetzen, dass wichtige Meetings auch dann virtuell stattfinden, wenn Sie im Büro anwesend sind. So sorgen Sie dafür, dass sich alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf Augenhöhe befinden. Sollte eine rein virtuelle Beteiligung nicht möglich sein, achten Sie besonders sorgfältig darauf, die gesamte Gruppe gleichermaßen einzubeziehen.
Insbesondere sollten Sie sicherstellen, dass geschäftsrelevante Entscheidungen nicht in einem einzigen Meeting getroffen werden. Wenn Sie und andere, die an dem betreffenden Tag im Büro sind, eine konkrete Projektidee entwickeln, dann vereinbaren Sie eine Nachbesprechung, an der alle Remote-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter teilnehmen können.
Beziehen Sie Ihre Beschäftigten ein
Indem Sie Ihre Mitarbeitenden zum Thema „Proximity Bias“ befragen, können Sie herausfinden, ob (bzw. in welchem Ausmaß) das Problem in Ihrem Unternehmen besteht. Owl Labs merkt zu diesem Thema an: „Einige Fragen sollten Sie Ihren Mitarbeitenden auf jeden Fall stellen – und zwar unabhängig davon, ob sie hauptsächlich im Büro oder remote arbeiten. Dazu gehören:
- Haben Sie das Gefühl, von „Proximity Bias“ betroffen zu sein?
- Waren Sie jemals von „Proximity Bias“ betroffen?
- Glauben Sie, dass Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen abhängig davon behandelt werden, von wo aus Sie Ihrer täglichen Arbeit nachgehen?
- Glauben Sie, dass Arbeitnehmende vor Ort gegenüber Remote-Beschäftigten bevorzugt werden?
Während wir uns damit auseinandersetzen, wie wir unsere neue hybride Arbeitswelt am besten gestalten, müssen wir gegenüber Themen wie „Proximity Bias“ aufgeschlossen bleiben. Vielleicht sind Sie der Ansicht, dass Ihr Unternehmen davon nicht betroffen ist – aber wie können Sie sich da wirklich sicher sein?
Für Führungskräfte ist es entscheidend, sich der diesbezüglichen Gefahren bewusst zu sein – aber auch der sich bietenden Lösungsansätze. Denn nur so ist es möglich, dem Unternehmen langfristig eine produktive, effektive und engagierte Belegschaft zu sichern.